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26. Die Nothlnge.
In einer kleinen französischen Stadt lebte ein angesehener „Eche-
vin" (Schöffe), eine der obrigkeitlichen Personen, die von den Bürgern
der städtischen Commune zur Handhabung der Polizei und Verwaltung
der Gemeindeangelegenheiten erwählt werden. Wegen seiner unerschütter¬
lichen Gerechtigkeitsliebe war der Beamte auch in weiteren Kreisen bekannt.
Da mehrere Jahre hintereinander der Ertrag der Felder nur ein sehr
geringer gewesen war, so trat eine Theuerung ein, unter deren Last der
kleine Bürger und der besitzlose Arbeiter am meisten seufzten. Daher
mochte es kommen, daß die Diebstähle in jener Gegend sich mehrten;
besonders Vieh und allerlei Nahrungsmittel wurden häufig entwendet.
Auch in dem Bezirke des Schöffen Dubois kamen einige Fälle vor, die
ihn deshalb so bekümmerten, weil es ihm trotz Aufbietung aller Kräfte
nicht gelang, die Thäter zu ermitteln.
Eines Morgens saß er mit seinen: fünfjährigen Sohne auf dem
Hose, der nordwärts hinter seinem Hause lag und an dessen Eingangs¬
pforte die Landstraße hinlief, die zur nächsten großen Stadt führte. Da
wurde ihm zum ersten Male von mehreren Männern ein kaum herange¬
wachsener Knabe überbracht, der im benachbarten Dorfe ein Schaf gestoh¬
len hatte. Er ließ den Burschen auf den Hof bringen, nahm ihm den
Strick ab, mit dem seine Hände gefesselt waren, befragte ihn und die
Männer, die ihn auf der That ertappt, und entließ dann die letzteren.
Da der Hof von hohen Mauern rings umgeben, da Thor und "Thür,
die nach der Straße führten, fest verschlossen waren, so konnte er ganz
sorglos den jugendlichen Verbrecher auf dein Hofe allein lassen und sich
in sein Zimmer begeben, um den Bericht an die nächste richterliche
Behörde aufzusetzen und mit diesem Berichte den eingefangenen Dieb
weiter befördern "zu lassen. Er hatte es gar nicht beachtet, daß sein
fünfjähriger Charles auf dem Hofe zurückgeblieben.
Der eingefangene Dieb — es mochte wohl die erste derartige That
gewesen sein, mit der er seine Hand und sein Gewissen befleckt, es mochte
wohl die Noth der Seinen gewesen sein, die ihn dazu angetrieben — der
eingefangene Dieb setzte sich in eine Ecke des Hofes, legte beide Hände
vor das Gesicht und fing bitterlich an zu weinen. Als der kleine Charles
den großen Burschen, vor dem er vorhin wie vor einem Ungeheuer
zurückgewichen war, weinen sah und schluchzen hörte, da erregte dieser
Erguß des Schmerzes sein ganzes Mitleid. Anfangs wohl neugierig,
dann aber voll Theilnahme näherte er sich dem Weinenden immer mehr
und konnte es nicht begreifen, warum der Fremde so traurig sei.
„Warum weinst du denn, fremder Mann?" so fragte der Kleine.
„Bist du hungrig, so will ich dir schnell von meinem Frühstücke die
Hälfte abgeben."
Der Gefangene blickte nach dem Frager auf; da es nur ein Kind
war, das vor ihm stand, so hielt er schnell die Hand wieder vor die Augen.
„Was fehlt dir denn, armer Mann?" so fuhr das Kind fort,
obgleich es aufseine erste Frage keine Antwort erhalten. Die Theilnahme
des Kleinen mochte doch auf das noch unverdorbene und durch Gewohn¬
heit zu sündigen noch nicht verhärtete Herz des Gefangenen einen Eindruck
machen. Vielleicht hatte er selbst in seiner Eltern Hause einen Bruder in
dem Alter dieses Kindes. „Darum muß ich weinen, mein Kind, weil