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Der Ritter nahm diese Worte zu Herzen, behielt den Pilger
über Nacht und wurde von dieser Zeit an wohlthätiger gegen
die Armen.
Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zu¬
künftige suchen wir.
Sage, was hilft alle Welt
mit ihrem Gut und Geld?
Alles verschwindet geschwind,
gleichwie der Rauch im Wind.
122. Die beiden Blinden.
Es waren einmal in Rom zwei Blinde. Der eine derselben
ries täglich in den Straßen der Stadt: „Dem ist geholfen, dem
Gott hilft;" der andere hingegen rief: „Dem ist geholfen, den:
der Kaiser hilft."
Da sie dies täglich thaten und der Kaiser es hörte, so ließ
er ein Brot backen und es mit vielen Goldstücken füllen; dies
Brot ließ er dem Blinden geben, der sich des Kaisers Hilfe
getröstete. Da der Blinde das schwere Gewicht des Brotes fühlte,
so verkaufte er es dem andern Blinden, als der ihm begegnete.
Dieser trug es zu Hause, und da er es gebrochen hatte und das
Geld darin fand, so dankte er Gott und hörte von nun an auf
zu betteln.
Da aber der andere immer noch in der Stadt bettelte, so
rief ihn der Kaiser zu sich und fragte ihn: „Was hast du mit
dem Brote gemacht, das ich dir gestern habe geben lassen?" Er
antwortete: „Ich habe es an meinen Freund verkauft, weil es
mir teigig zu fein schien." Da sagte der Kaiser: „In der That,
wem Gott hilft, dem ist geholfen," und trieb den Blinden von sich.
123. Das kostbare Kräutlein.
Zwei Mägde, Brigitte und Walburg, gingen der Stadt zu,
und jede trug einen schweren Korb voll Obst auf dem Kopfe.
Brigitte murrte und seufzte beständig; Walburg aber lachte und
scherzte nur. Brigitte sagte: „Wie magst du doch lachen? Dein
Korb ist ja so schwer wie der meinige, und du bist um nichts stärker
als ich." Walburg sprach: „Ich habe ein gewisses Kräutlein
zur Last gelegt, und so fühle ich sie kaum. Mach es auch so."
„Ei!" rief Brigitte, „das muß ein kostbares Kräutlein sein. Ich
möchte mir meine Last damit auch gern erleichtern. Sage mir
doch einmal, wie es heißt." Walburg antwortete: „Das kost-