Full text: [Partie 2] (Partie 2)

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Kindererziehung. 
gibt Eltern oder Pflegerinnen, die an dem Appetit des Kindes eine solche Freude 
haben, daß sie kaum einmal daran denken, dem Wunsche des Kindes nach 
weiterer Nahrung eine Schranke zu setzen. Wir berücksichtigen selbstverständlich 
auch den Appetit des Kindes, aber über die Größe der Mahlzeiten, ebenso über 
die Auswahl der Speisen soll unbedingt der Wille der Erwachsenen, die 
das Kind beaufsichtigen, nicht der des Kindes entscheiden. Dabei muß ich auch 
an so manches Kind denken, von dem mir die Muͤtter erzählte, es möge oder 
vielmehr es könne dies oder jenes nicht essen, habe gegen das eine oder andere 
oder aber gegen jedes Gemüse eine unüberwindliche Abneigung. In den meisten 
dieser Fälle dürfen wir ohne weiteres annehmen, daß es sich um Fehler in der 
Erziehung handelt, und recht häufig werden wir derselben Abneigung bei einem 
der Erwachsenen, bei Mutter oder Vater oder Pflegerin begegnen, durch die 
das Kind beeinflußt worden ist. Doch gibt es — allerdings nur seltene — 
Fälle, in denen bei Kindern auf ein bestimmtes Nahrungsmittel regelmäßig 
Ernährungsstörungen (Erbrechen, Durchfall) folgen. In solchen Fällen, bei 
denen man zweifelhaft ist, ob es sich um eine Unart des Kindes oder um einen 
sogenannten nervösen Widerwillen handelt, ist der Arzt zu fragen. 
Bei dem Übergang zu einer neuen Kostform, z. B. wenn das Kind von 
süßer Milch zu salziger Nahrung übergehen soll, werden wir langsam vorgehen, 
wenn wir auf Widerstand beim Kind stoßen; aber wir dürfen uns durch diesen 
Widerstand nicht beirren lassen. Natürlich ist es schwerer und erfordert mehr 
Geduld, das Kind an tätigen Gehorsam als an bloße Enthaltsamkeit zu ge— 
wöhnen, und natürlich ist es leichter, dem Kinde bestimmte Speisen vorzuent— 
halten oder zu verbieten, als eine scheinbare oder vielleicht wirkliche Abneigung 
zu überwinden. Das Kind soll Gemüse und soll jedes Gemüse essen; es wird 
kaum ein Kind geben, das nicht bei dem einen oder anderen, oder bei dieser 
oder jener Gelegenheit, nicht selten ganz grundlos, das heißt bei einem Gemüse, 
das es sonst ruhig zu essen pflegt, plötzlich sich widersetzt. Solche Auflehnungs- 
versuche werden wir, immer vorausgesetzt natürlich, daß es sich nicht uͤm eine 
tatsächliche Erkrankung handelt, durch Festigkeit überwinden, bis das Kind er— 
kennt, daß es einen Willen über dem seinen gibt, bis es Gehorsam gelernt hat. 
Ich darf darauf aufmerksam machen, daß die kleinen Komödianten, die 
nun einmal die Kinder sind, sich bei solchen Gelegenheiten, wenn sie ein Ge— 
müse nicht mögen, benehmen, als ob es ihnen körperlich unmöglich sei, den 
Bissen herunterzubringen. Es kommt bis zu Würgbewegungen, die einen uner 
fahrenen oder ängstlichen Erzieher zu der Meinung bringen, daß diese Speise 
unter keinen Umsländen dem Kind gegeben werden darf. Man braucht nur 
ruhig das Kind zu beobachten, um sich zu überzeugen, daß es nichts wie eine 
Ungezogenheit ist, die wir nicht dulden dürfen. 
Übrigens ist schon beini jungen Kinde nicht nur darauf zu achten, daß 
es ißt, sondern auch wie es ißt. Mit 11/, Jahren erlernt das Kind in der 
Regel die einfachste Art zu essen, nämlich mit beiden Händen die Tasse zum 
Munde zu führen und sauber zu trinken, und der Gebrauch von Löffel und 
Schieber ermöglicht auch dem jungen Kinde die saubere Aufnahme von Ge— 
müse und Brei, vorausgesetzt, daß diese nicht zuviel Flüssigkeiten enthalten. Bis 
das Kind jedoch die rechte Form beherrscht und keine Verstöße mehr begeht, 
vergeht mancher Monat. Wie häufig gerade die Erziehung auf diesem Gebiel 
vernachlässigt wird, das zu beobachten, finden wir in Badeorten, die für Kinder 
einen besonderen Ruf haben, häufig Gelegenheit. Da sehen wir an einem Tisch 
bei der Mutter ein dreijähriges Kind sihen, das tadellos und ruhig ißt, an 
einem anderen ein vierjähriges, das seinen Teller Gemüse nicht essen kann,
	        
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