— 21 —
„Denkt einmal," sagte ein Dritter, „wie es mir ergangen ist!
Ich leb' schon lang mit meinem Nachbar in Unfrieden, wie Ihr wißt.
Einmal beim Wotansfeste hatte er zu viel getrunken und mein Bruder
auch, und sie kommen in Streit, ziehen die Beile aus dem Gürtel und
gehen aufeinander los, bis mein Bruder tot im Blute liegt. „Mordio!"
schrei ich und will den Mörder festhalten. Der aber reißt sich los,
läuft, was er laufen kann, fort in den Wald. Tort lebt er draußen
als einsamer wilder Werwolf. Aber nun ging es Sippe gegen Sippe.
Ich brannte ihm seine Hütte nieder, er mir nachts drauf die meinige.
Ich erschlug ihm seinen Sohn, er mir meine Tochter. Wo unsere
Sippen zusammentrafen, gab es Streit und Schläge. Bis am nächsten
Wotansfeste der Häuptling die Sache in die Hand nahm. „Versöhnt
euch," sagte er, „gebt Wergeld! Der Mörder wartet dort im heiligen
Hain!" Wir unterhandelten, Sippe mit Sippe. Er gab mir Rinder,
ich gab ihm Rinder. Der Streit war aus. Aber am andern Tag
kam der römische Gerichtsbote. „Ihr habt etwas mitsammen!" sagte
er. „Es sind sogar Morde geschehen." — „Die Sache ist wieder gut!“
sagte ich, „wir sind versöhnt." — „Die Sache ist aber nicht gut," sagte
der Italiener. „Das ist feine Häuptlingssache. Das ist unsere Sache."
— Wir mußten vors römische Gericht. Ich bekam Prügel, sein Bruder
bekam Prügel, die ganze Sippe bekam Prügel. Wir und die andern.
„Und du, Werwolf, du hast angefangen!" sagte der Römer zum Nachbar.
„Soldaten, führt ihn hinaus!" — Man führte ihn vors Lager. Matt
stellte einen Block vor ihm ins Gras. „Knie nieder, Werwolf! —
Lege den Kops auf den Block!" S—t! Ein Beilhieb! Der Kopf
war weg."
„Ja, genau so machen sie’»! Es ist unerhört!" riefen die Zu¬
hörer und machten Fäuste.
„Jetzt kommen sie!" hörte man von hinten rufen. Der Häuptling
kam mit Armin; neugierig sahen alle auf den Fremden; manche grüßten
ihn freundlich. Der Häuptling stellte sich unter eine große Eiche, schlug
mit dem Speer dreimal an seinen Schild, der am Aste hing, und fing an:
„Der Fremde, den ihr hier seht, ist Armin, der Sohn des Fürsten Sigimer
im Cheruskerland." — Alle blickten auf Armin. — „Er will euch jetzt
sagen, wie wir es anfangen müssen, um die Römer aus dem Lande zu
jagen." — Der Häuptling trat zur Seite; Armin sprang auf einen
Felsblock, damit ihn alle sehen konnten, und sprach: „Freie, edle
Männer! Wie geht es uns, seit Varus Statthalter ist?" — „Schlecht!"
rief ein Bauer und spuckte aus; alle lachten. Armin fuhr fort: „Wenn
er für seine Soldaten 50 Rinder braucht, verlangt er 100 von uns; das