Full text: Berlinisches neu eingerichtetes ABC Buchstabir- und Lese-Büchlein ([Theil 1])

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„Denkt einmal," sagte ein Dritter, „wie es mir ergangen ist! 
Ich leb' schon lang mit meinem Nachbar in Unfrieden, wie Ihr wißt. 
Einmal beim Wotansfeste hatte er zu viel getrunken und mein Bruder 
auch, und sie kommen in Streit, ziehen die Beile aus dem Gürtel und 
gehen aufeinander los, bis mein Bruder tot im Blute liegt. „Mordio!" 
schrei ich und will den Mörder festhalten. Der aber reißt sich los, 
läuft, was er laufen kann, fort in den Wald. Tort lebt er draußen 
als einsamer wilder Werwolf. Aber nun ging es Sippe gegen Sippe. 
Ich brannte ihm seine Hütte nieder, er mir nachts drauf die meinige. 
Ich erschlug ihm seinen Sohn, er mir meine Tochter. Wo unsere 
Sippen zusammentrafen, gab es Streit und Schläge. Bis am nächsten 
Wotansfeste der Häuptling die Sache in die Hand nahm. „Versöhnt 
euch," sagte er, „gebt Wergeld! Der Mörder wartet dort im heiligen 
Hain!" Wir unterhandelten, Sippe mit Sippe. Er gab mir Rinder, 
ich gab ihm Rinder. Der Streit war aus. Aber am andern Tag 
kam der römische Gerichtsbote. „Ihr habt etwas mitsammen!" sagte 
er. „Es sind sogar Morde geschehen." — „Die Sache ist wieder gut!“ 
sagte ich, „wir sind versöhnt." — „Die Sache ist aber nicht gut," sagte 
der Italiener. „Das ist feine Häuptlingssache. Das ist unsere Sache." 
— Wir mußten vors römische Gericht. Ich bekam Prügel, sein Bruder 
bekam Prügel, die ganze Sippe bekam Prügel. Wir und die andern. 
„Und du, Werwolf, du hast angefangen!" sagte der Römer zum Nachbar. 
„Soldaten, führt ihn hinaus!" — Man führte ihn vors Lager. Matt 
stellte einen Block vor ihm ins Gras. „Knie nieder, Werwolf! — 
Lege den Kops auf den Block!" S—t! Ein Beilhieb! Der Kopf 
war weg." 
„Ja, genau so machen sie’»! Es ist unerhört!" riefen die Zu¬ 
hörer und machten Fäuste. 
„Jetzt kommen sie!" hörte man von hinten rufen. Der Häuptling 
kam mit Armin; neugierig sahen alle auf den Fremden; manche grüßten 
ihn freundlich. Der Häuptling stellte sich unter eine große Eiche, schlug 
mit dem Speer dreimal an seinen Schild, der am Aste hing, und fing an: 
„Der Fremde, den ihr hier seht, ist Armin, der Sohn des Fürsten Sigimer 
im Cheruskerland." — Alle blickten auf Armin. — „Er will euch jetzt 
sagen, wie wir es anfangen müssen, um die Römer aus dem Lande zu 
jagen." — Der Häuptling trat zur Seite; Armin sprang auf einen 
Felsblock, damit ihn alle sehen konnten, und sprach: „Freie, edle 
Männer! Wie geht es uns, seit Varus Statthalter ist?" — „Schlecht!" 
rief ein Bauer und spuckte aus; alle lachten. Armin fuhr fort: „Wenn 
er für seine Soldaten 50 Rinder braucht, verlangt er 100 von uns; das
	        
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