Full text: Berlinisches neu eingerichtetes ABC Buchstabir- und Lese-Büchlein ([Theil 1])

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richtete sich eilig in die Höhe und horchte; aber der Knabe schlief 
ruhig weiter. „Ach!" dachte der Mann, „ihr guten Kinder! noch ruht 
ihr sorglos und kennt die Plagen dieses Lebens nicht, kennt nicht die 
Sorgen eurer armen Eltern. Wie sehr wir uns auch abmühen, wie 
sparsam wir auch leben — kaum können wir für euch den notdürftigsten 
Unterhalt erwerben. Nur ein kleines Unglück braucht uns zu treffen, 
eines von uns beiden braucht nur zu erkranken, und wir sind nicht 
mehr imstande, euch zu nähren und zu kleiden, müssen euch von Thür 
zu Thür schicken Ha, betteln!" rief er erschreckt. „Nein, nie und 
nimmermehr! Eher will ich ... . Sie sind ja unverheiratet, sie haben 
für keine Kinder zu sorgen. Sie fühlen es nicht, wie hart es einem 
Vater wird, den Hunger seiner Kinder nicht stillen zu können. Was 
thun sie auch mit ihrem Gelde? Soll ich ... .? Gott, Gott, führe 
mich nicht in Versuchung!" 
„Und kein Mensch wird's gewahr," flüsterte es ihm nach einer Weile 
wieder zu. „Die beiden werden nicht einmal davon zu sprechen wagen, 
aus Furcht, daß sie von schadenfrohen Leuten verlacht und verspottet 
würden. Gewiß, es ist keine Gefahr dabei; was das angeht, könnte 
ich es nur unbesorgt ausführen." — Da schlägt es ein Uhr. „Alles 
ist so still! Kein Mensch ist mehr wach! In zehn Minuten ist der 
Schatz gehoben, und ich bin ein reicher Mann und kam: meine Kinder 
ehrlich ernähren .... Aber was sag' ich? Ehrlich? Wäre das ehrlich? 
Und wenn es auch kein Mensch sieht, sieht es nicht Gott, mein einstiger 
Richter?! Nein, nein," sprach er dann wieder entschlossen, „ich thue es 
nicht! Hat doch mein seliger Vater mir in meiner Jugend so oft und 
tief eingeprägt: Ehrlich währt am längsten, und: Gott ver¬ 
läßt die Seinen nicht. O Gott, verlaß auch mich jetzt nicht!" 
So wälzte sich der Mann, von den heftigsten Versuchungen ge¬ 
plagt, auf seinem harten Lager hin und her, und als es anfing zu 
grauen, und als endlich die Sonne ihre ersten Strahlen durch seine 
Fenster warf, hatte er noch kein Auge zum Schlafe geschlossen. Da 
zuckte ihn: auf einmal ein rascher Entschluß durch die Seele, und kaum 
hatte er ihn gefaßt, so wurde derselbe auch schon ausgeführt. Rasch 
sprang er vom Bette, zog seine leinenen Kleider an, schlich sich leise 
aus der Kammer und aus dem Hause hinaus, und pochte dann mit 
heftigen Schlägen an die Thüre seiner beiden Nachbarn. Diese, die 
vielleicht auch nicht so ruhig geschlafen wie gewöhnlich, hatten bald 
geöffnet, und erstaunt über den so außergewöhnlich frühen Besuch ihres 
Nachbars, fragten sie ihn besorgt, was er wolle oder was ihm fehle.
	        
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