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mit seinem jungem Bruder, dem Prinzen Heinrich, zusammen unterrichtet.
Ein Berliner Schreiblehrer erhielt den Auftrag, beide Prinzen im Schön¬
schreiben zu unterweisen. Die Stunden sollten früh um 7 Uhr beginnen.
Als der Lehrer zur ersten Stunde ins Arbeitszimmer trat, waren die Prinzen
schon eifrig bei der Arbeit. Gefragt, ob ihnen die Stunde nicht zu früh sei,
erwiderten sie mit frohem Lachen: „Wir sind bereits seit 6 Uhr an der
Arbeit und das Frühanfstehen gewöhnt."
3. Schon von seinem 7. Lebensjahr an mußte Prinz Wilhelm tüchtig
turnen und exerzieren. Ebenso lernte er rudern, schwimmen und Schlittschuh
laufen. Er durfte aber auch täglich spielen, und oft tummelte sich der kleine
Prinz stundenlang mit seinem Bruder Heinrich auf dem Platze neben dem
Schlosse umher. Einmal wurde Soldat gespielt. Mehrere Knaben waren
mit Bohnenstangen und hölzernen Säbeln bewaffnet, und der achtjährige
Prinz Wilhelm befehligte. Unter den Zuschauern befand sich ein neunjähriger
Knabe, der auch eine Stange und einen Holzsäbel trug, seine Kleider waren
jedoch geflickt und Schuhe hatte er gar nicht an den Füßen. Dieser sah
dem Soldatenspiel mit trauriger Miene zu; denn die spielenden Jungen
hatten ihm gesagt, er bekäme Schläge, wenn er mitspiele. Prinz Wilhelm
wußte davon nichts. Als er den bewaffneten Knaben sah, holte er ihn
heran und stellte ihn trotz seines geflickten Anzuges unter die Spielenden.
Diese wollten jedoch nicht neben ihm stehen; sie neckten ihn, so daß ihm
bald Tränen in den Augen standen. „Was fehlt dir?" fragte der Prinz.
Der Knabe antwortete: „Die andern wollen mich nicht mitexerzieren lassen,
weil ich zu armselig angezogen bin. Ich möchte deshalb lieber wieder ans¬
treten." Da verfinsterte sich das Gesicht des Prinzen, und er sagte zu den
andern Jungen: „Wenn es euch nicht paßt, mit dem armen Knaben zu
spielen, so paßt es mir auch nicht, mit euch zu spielen." Sofort steckte er
seinen Säbel ein, verabschiedete sich von dem traurigen Jungen und verließ
den Exerzierplatz.
4. Als zehnjähriger Prinz durfte er die Uniform eines Leutnants an¬
legen; er wurde Offizier. Als dann der Krieg gegen Frankreich hereinbrach,
wäre er am liebsten mit ins Feld gezogen. Mit Jubel vernahm er die
Siegesnachrichten. Und als sein Großvater und Vater als siegreiche Helden
nach Berlin zurückkehrten, empfing sie Prinz Wilhelm in seiner Offiziers-
nniform ans dem Bahnhof.
5. Im 15. Lebensjahr fand seine Konfirmation statt. Hierbei legte
er das Gelübde ab: „Ich will die Zeit meiner Jugend gewissenhaft benutzen,
um meine spätere Aufgabe gut erfüllen zu können."
6. Von 1874—1877 besuchte Prinz Wilhelm das Gymnasium in
Kassel. Während dieser Zeit bewohnte er mit seinein Erzieher das nahe
gelegene Schloß Wilhelmshöhe. Morgens 6 Uhr stand er auf, und bald
danach ritt oder fuhr er nach Kassel hinüber. Dabei trug er stets die vor¬
geschriebene Klassenmütze. Punkt 7 Uhr betrat er, die Bücher unter dem
Arme, das Schulzimmer und nahm seinen Platz ans der Schulbank ein. Dem
Unterricht folgte der Prinz mit großer Aufmerksamkeit; alle seine Ausgaben
erfüllte er pünktlich und gerne. Auch Ordnerdienste tat er willig. Kam die
Reihe an ihn, so spitzte er die Kreide, wusch den Schwamm an der Pumpe