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Sokrates
Gespräch fort, worin er, da ich ihm vorgestellt wurde, mit seinen meisten
noch jungen Freunden begriffen war. Aber als ich es für Zeit hielt
mich wieder wegzubegeben, nahm er mich bei der Hand und sagte: „Ich
bor, du gedenkst dich einige Zeit zu Athen aufzuhalten, um zu sehen,
zu hören und zu lernen, was bei uns Sehens, Hörens und Lernens wer
ist. Du wirst dessen von aller Art manches finden; des Gegenteils viel—
en noch mehr. Um desto weniger getäuscht zu werden, tut ein Fremder
bei uns wohl, wenn er sein Urteil zurückhält und etwas mißtrauisch
egen die ersten Eindrücke ist. Gefällt es dir in meiner Gesellschaft, so
E bei dir, so oft um mich zu sein als andere deines Alters, die mir
ihr Zutrauen geschenkt haben und durch meinen Umgang besser zu werden
glauben. Ich weiß wenig, wiewohl ich einen Teil meines Lebens
mit Forschen zubrachte. Wo ich nicht weiter kann, behelfe ich mich mit
dem, was mir das Wahrscheinlichste dünkt; denn immer in Zweifeln
schweben, ist für einen besonnenen Menschen ein unerträglicher Zustand;
indessen reiche ich mit dem wenigen, worüber ich gewiß bin, ziemlich
aus und halte mich desto fester daran. Meine Freunde haben ein Recht
an alles, wodurch ich ihnen nützlich werden kann. Ich lasse mich gerne
fragen, frage aber auch gern wieder und hab' es aus langer Er⸗
fahrung, daß dies die kürzeste und sicherste Art ist, einander auf die
Spur der Wahrheit zu helfen.“
Ich sehe und höre den Sokrates alle Tage, und habe, außer seinen
Freunden oder eigentlichen Anhängern, noch wenig Bekanntschaften ge⸗
acht; doch soll auch dies mit der Zeit anders werden. Für jetzt ist mein
Hauptzweck, den merkwürdigsten aller Menschen so lange zu beobachten
und zu studieren, bis ich ihn ganz zu kennen und zu verstehen glaube.
Er ist, wiewohl er vielerlei Kenntnisse besitzt, kein eigentlicher Ge—
lehrter und ob er gleich ein sehr weiser und kluger Mann ist, weder das,
was man einen Philosophen, noch was man einen Staatsmann zu nennen
pflegt; oder richtiger zu reden, seine Weisheit und Klugheit war
es eben, was ihn abhielt, sich aus dem einen oder dem ander
dieser Qualitäten eine Lebensart zu machen. Er ist ein zu edler
und guter Mensch, um ein bloßer Bürger von Athen, und gleich—
wohl zu sehr Bürger von Athen, um ein echter Weltbürger zu sein.
Man erstaunt, bei einem Manne, der (wenn man ein paar Feldzüge
ausnimmt) nie aus Athen gekommen ist, einen solchen Umfang bon
elt⸗ und Menschenkenntnis, einen so hellen, von Vorurteilen und Wahn—
egriffen so gereinigten Verstand und einen so feinen Sinn, für die rechte
Art mit allen Gattungen von Menschen umzugehen, zu finden.
Um mir beim Erforschen dieses in seiner Art so ganz einzigen Mannes