Was und wie soll gelesen werden zum wahren Vorteil der Bildung? 61 
Über dem Feierabende ruht der hauch der Andacht, der Vertiefung 
und Vergeistigung. Und wie wir am Feierabende alles Schöne, Liebe und 
Traute genießen, was lebendig von Mund zu Mund strömt, wie die Ge¬ 
selligkeit des lebenden Geschlechtes uns in eine höhere Welt entrückt, so 
suchen wir auch die Dahingeschiedenen auf, um in ihrem Umgänge uns 
aufs neue für das Leben zu weihen, sei es, daß wir an den Hügeln unserer 
Lieben aus ihr Leben und Lieben, aus ihr Kämpfen und Leiden zurück¬ 
schauen, oder uns vertiefen in das, was große Tote als bleibendes Ver¬ 
mächtnis uns hinterlassen haben, in das Schrifttum unseres Volkes, in 
die Schöpfungen unserer Dichter und Denker. Erst in dem Umgänge mit 
ihnen, den erlauchtesten Geistern, die in unserm Volke im Laufe der Jahr¬ 
hunderte auftraten, finden wir das, was die ahnende Seele im stillen Abend- 
srieden sucht: Erhebung, Stärkung, große Menschen und einen Reichtum 
der Handlungen, gegen den das gewöhnliche Leben verblaßt. Drum, 
deutsche Jugend, wo du auch dein Tagewerk treibest, wenn die Feierstunde 
anbricht, so laß dich nieder zu den Füßen deiner großen Lehrer und Meister! 
Lerne am Tage, was dir frommt für deinen Beruf,- am Übend gedenke 
deiner höheren Abkunft, erhebe deinen Geist zu den höhen, auf denen das 
ewige Sonnenlicht flammt. 
Lies, was unsere Dichter gesungen, was unsere Geschichtschreiber aus 
alten Efuellen gesammelt haben, und was der Lebensbeschreiber von tüch¬ 
tigen Männern auch deines Berufes berichtet. Lin altes Bildnis stellt den 
jugendlichen Hans Sachs dar, wie er nach vollbrachtem Tagewerke neben seiner 
Schuhmacherwerkstatt, mit dem Buche auf den Knieen, im Schatten eines 
himmelanstrebenden Domes sitzt und voll heiliger Begeisterung emporschaut 
zum lichten Abendrot. Er sei dein Muster! Am Tage treib' dein Werk mit 
Fleiß und Eifer, — am Abend pflege deinen Geist! Suche Umgang mit lieben 
Menschen, die mit dir leben, gedenke derer, die von dir geschieden sind, und 
versenke dich in den Geist derer, die reich und groß genug waren, um Lehrer 
und Führer vieler nachfolgender Geschlechter zu sein. I. Lews. 
57. Was und wie soll gelesen werden zum wahren Borteil der 
Bildung? 
Lesen ohne Nutzen für Geist und Gemüt heißt säen, ohne ernten zu 
wollen; man könnte ebenso gut den Meeressand Pflügen oder das Meer 
selbst; und unter allen Mitteln, die Zeit zu verlieren, ist dieses eines der 
schlechtesten. Sage nicht: „Es bleibt doch etwas zurück." Das, was zurück¬ 
bleibt, vermehrt nur die Unordnung in deinem Kopfe und Herzen, wie bei 
einem Umzuge das, was aus den Wannen und Körben verzettelt wird. Was 
du liesest, das sollst du zu deinem geistigen Eigentume machen; wie kannst 
du das aber auch nur wollen, wenn ungewählte Leserei dir Schlechtes und 
Gutes ohne Unterschied bietet? Bilden heißt gestalten; und wer möchte in 
sich etwas Häßliches und Gemeines gestalten? Oder bedarf der Geist weniger 
Rücksicht als der Leib? Und drängt sich denn nicht die innere Gemeinheit 
unvermeidlich auch in die äußere Erscheinung ein und gibt sich nicht nur in 
den Worten kund, sondern auch in den Zügen und dem ganzen Wesen eines 
Menschen? Auch da gestaltet sich nichts, wo ein Eindruck den anderen ver¬ 
tilgt. Das Gemüt dessen, der alles liest, was der Zufall herbeiführt, gleicht 
dem Himmel an einem stürmischen Tage, wo wechselndes, hin- und her-
	        
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