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eine Sirene sei. Darüber ward sie tiefbetrübt und klagte bitter, daß sie nun
gezwungen sei ihren Gemahl zu verlassen. Zu spät bereute Raimund seine
Unbesonnenheit. Die schöne Melusine verschwand in dem Brunnen, aus dem
sie gekommen war, und ward nicht mehr gesehen.
29. Genovefa.
Im trierischen Lande lebte vor Zeiten ein Gras Siegfried mit seiner
schönen und tugendhaften Gemahlin Genovefa. Da er bald nach der Ver¬
mählung seinem Lehnsherrn, dem Könige Martellus von Frankreich, gegen
die mohammedanischen Mauren zu Hülfe ziehen mußte, so empfahl er seine
geliebte Genovefa dem Schutze seines Hofmeisters Golo. Doch Golos Herz
ward vom Bösen betört, und um seine Herrin zu verderben, beschuldigte er sie
öffentlich der Untreue gegen ihren Gemahl und ließ sie ins Gefängnis werfen.
Dort bekam Genovefa ein Söhnlein, das sie Schmerzenreich nannte. Den
Grafen Siegfried aber, der im fremden Land an einer Wunde krank
daniederlag, wußte der heuchlerische Golo durch falsche Botschaft so zu
täuschen, daß er in höchster Wut den Befehl gab, Genovefa samt ihren: Kinde
schmählich zu töten. Zwei zuverlässige Diener führten die arme Gräfin mit
ihrem zarten Söhnlein in den Wald hinaus; dort sollten sie beide ermorden
und zum Wahrzeichen ihre ausgestochenen Augen heimbringen. Doch die
Tränen der unschuldigen Genovefa rührten der Knechte Herz, und sic ließen
ihr und dem Kinde das Leben unter der Bedingung, daß sie sich im Walde
verborgen halten und nimmermehr unter die Menschen zurückkehren wollte.
Den Golo aber täuschten sie, indem sie ihm die Augen zweier getöteten Jagd¬
hunde heimbrachten.
Genovefa suchte nun im wilden Wald ein Obdach und fand am dritten
Tage eine Felshöhle, neben der eine Quelle floß. Sie bereitete ein Bett aus
Baumzweigcn und Laub; Kräuter und Wurzeln dienten ihr als Nahrung.
Ihr armes Kindlein aber litt von Kälte und Not so sehr, daß cs zu sterben
drohte. Da betete Genovefa inbrünstig zu Gott um Rettung, und siche! eine
Hirschkuh kam aus dem Walde gelaufen, tat ganz zahm und bot dem Säug¬
ling ihr (Suter dar. Auch sandte Gott einen Wolf daher, der die Haut eines
zerrissenen Schafes im Rachen trug und sie vor dem Kinde niederlegte. Täg¬
lich kamen die wilden Tiere und spielten zutraulich mit dem Knäblein. So
wuchs Schmcrzenreich wie durch ein Wunder heran und lernte allgemach
gehen und reden.
Indessen peinigte den heimgekehrten Grafen sein Gewissen und machte
ihn trübsinnig. Dazu kam, daß er einen von Genovefa im Gefängnis ge-
schriebnen Brief fand, worin sie mit bewegten Worten ihre Unschuld beteuerte
und Golos schändlichen Anschlag aufdeckte. Sieben Jahre waren seit Genovefas