Contents: Deutsches Lesebuch für obere Gymnasialklassen

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Vortheil episch behandeln, weil ihr Andenken durch Verfassung, 
Volksfeste und wenig veränderte Sitten immer noch neu erhal¬ 
ten wird. Wenn der Dichter aber keine Sagen vorfände oder 
aus Wahl keinen Gebrauch von vorhandenen machte, so müßte 
er nothwendig in seinem Zeitalter, unter seinem Volke daheim 
bleiben. Es fragt sich nun weiter, was er in diesem Kreise her¬ 
ausheben, ob sich die Darstellung lieber auf das öffentliche oder 
auf das Privatleben wenden soll. Man wird geneigt sein zu 
glauben, Begebenheiten, die auf das Wohl und Wehe vieler 
Tausende den wichtigsten Einfluß haben, seien vorzüglich geschickt, 
auch in der Poesie groß und ergreifend zu erscheinen; was aller¬ 
dings gegründet ist, so lange man sie nur durch allgemeine An¬ 
sichten in große Massen zusammenfaßt. Allein damit kann sich 
die epische Ausführlichkeit nicht begnügen: sie muß sehr ins Ein¬ 
zelne gehn, sie kann den Gang einer Begebenheit durchaus nur 
an bestimmten Thätigkeiten der Mitwirkenden fortleiten; und hier 
ist es eben. wo sich die unüberwindliche Sprödigkeit eines solchen 
Stoffs offenbaren würde. Was nämlich wissenschaftlich oder 
mechanisch betrieben wird, wobei nach politischen und taktischen 
Berechnungen eine Menge Menschen wie bloße Werkzeuge mit 
gänzlicher Verzichtleistung auf ihre sittliche Selbstthätigkeit in 
Bewegung gesetzt werden; was für die lenkenden Personen selbst 
einzig Angelegenheit des Verstandes ist, die außerhalb der Sphäre 
ihrer sittlichen Verhältnisse liegt: dem ist schlechterdings keine 
poetiche Seite abzugewinnen. In den öffentlichen Geschäften 
des Friedens kann nur da, wo die Verfassung echt republikanisch 
ist, in denen des Kriegs konnte unter den Griechen nur im 
heroischen Zeitalter, unter uns nur in den Ritterzeiten der Mensch 
mit seiner ganzen geistigen und körperlichen Energie auftreten. 
Ein in unserm Zeitalter und unsern Sitten einheimisches Epos 
wird daher mehr eine Odyssee als eine Ilias sein. sich mehr mit 
dem Privatleben als mit öffentlichen Thaten und Verhälnissen 
beschäftigen müssen. Doch hier öffnet sich wieder eine neue Aus¬ 
sicht von Schwierigkeiten, die, wenn die Aufgabe nicht gelöst vor 
uns läge, die Ausführbarkeit sehr zweifelhaft machen könnten. 
In den höheren Ständen wird die freie Bewegung, Aeußerung. 
Berührung und Wechselwirkung der Gemüther durch tausend 
conventionelle Fesseln gehemmt; in den unteren durch den Druck 
der Bedürfnisse und den Mangel am Gefühl eigner Würde. 
Die künstlich zusammengesetzte, glänzende, aber leere Geselligkeit
	        
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