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166. Oskar v. Redwitz.
Geb. am 28. Juni 1823 in Lichtenau bei AnSbach; studierte seit 1841 in München und Erlangen
die Rechte; 1846—1849 Rechtsanwalt in Speier und Kaiserslautern, entsagte der juristischen Praxis,
um dem Studium der Literatur und dem poetischen Schaffen zu leben; trieb in Bonn unter Simrock
das Studium der mittelhochdeutschen Sprache und Literatur; lebte seit 1853 auf seinem Landgute 5
Schelleuberg bei Kaiserslautern, seit 1871 in Meran. Gest. am 6. Juli 1891 im Asyl für Nervenkranke
zu St. Gilgenbera bei Baireuth. Gedichte. Epos: „Amaranth". „Odilo." Dramen: „Philippiue
Welser", „Der Zunftmeister von Nürnberg", „Der Doge von Venedig". Roman: „Hermann
Stark". — „Das Lied vom neuen Deutschen Reich" (Bermächtnis eines ehemaligen Lützowschen
Jägers ans Paterland). „Haus Wartenberg." „Odilo."
Der Kirchgang.
Amaranth. Mainz 1852. 5. 90.
sJm nachstehenden wird uns Amaranth geschildert, welche für den trefflichen Walther eine tiefe
Herzensneigung gefaßt hat. Wie immer, so denkt sie auch am frühen Sonntaasmorgen, als sie sich
eben zum Besuch des Gotteshauses und zum Genuffe des heiligen Abendmahls rüstet, des teuren
Geliebten. Aber als sie die Klosterglocken zur Kirche rufen, und der Kirchgang durch den einsam-
schönen Wald ihr Herz mit himmlischer Andacht erfüllt, da peinigt sie der Gedanke, daß irdische und
himmlische Liebe in einem Herzen wohl nicht beieinander wohnen können, und daß ihr Herz, von
der Liebe zu Walther durchglüht, nicht auch zugleich eine Wohnung für Christus, den sie im heiligen
Abendmahl empfangen will, sein könne. Dieser innere Widerstreit der Empfindungen macht sie so
tieftraurig, daß sie ihr Haupt an einen Baum lehnt und weint.)
Was stehst du an dem Fensterrand?
Was fügst du trauernd Hand in Hand,
Und siehst, das Haupt so tief gebückt,
Mit nassem Aug' die Nelken an? —
Und hast dich heute so geschmückt,
Dein goldnes Kettlein angetan,
Und schlägst den Schleier um das Haar,
Und schlingst den Gürtel silberklar
Ums himmelblaue Sonntagskleid! —
O Amaranth! Mach dir kein Leid!
Stell's Gott anheim, wie's gehen mag!
Hörst du vom Kloster das Geläut?
Es kündet dir den Feiertag!
Hast gestern so dich drauf gefreut,
Und nun das heil'ge Mahl so nah,
Stehst säumend du in Tränen da? —
Da ist der letzte Schlag verhallt,
Und leis' sie aus der Kammer wallt,
Und schleicht zur Treppe mit Bedacht,
Daß ja bei ihres Trittes Laut
Der teure Vater nicht erwacht;
Es hat ja kaum der Tag gegraut.
Und aus dem schlummerstillen Haus,
Vom Traum von Seligkeit und Qual *)
Im müden Aug' den letzten Strahl,
Tritt sie zum dunkeln Wald hinaus.
Q scl'ger Gang, am Feiertag
Zu wandeln durch die Waldesnacht,
Durch hoher Eichen Kronenpracht,
Durch saft'ger Buchen duft'gen Schlag,
Durch Wieseugründe bronuenfrisch,
An junger Erlen schlankem Hag,
Zu wandeln zu des Herren Tisch!
Noch überall ist tiefe Ruh',
Die Himmelsaugen2) blicken matt
Und fallen mählich brechend zu.
Es schläft im Wald noch jedes Blatt,
Und jeder Stamm, und jeder Stein,
Die Vöglein all' in Busch und Baum,
Die Blümlein all' am Born und Rain.
Da ganz zuerst am Waldessaum,
Von Amaranthens Tritt geweckt,
Der Schlehdorn aus dem Traume schreckt;
Wie der sich frisch den letzten Schlaf
Vom taubeperlten Haupt geschüttelt,
Das Amselnest ein Beerlein traf;
Und nebendran vom Wind gerüttelt,
Der Erlen loses Volk erwacht;
Die haben kaum mit knapper Müh'
Die grünen Äuglein aufgemacht,
So necken sie in aller Früh'
Auch schon den alten Tannenbaum,
Und kichern, wie im Schlaf er nickt,
Und zupfen ihn am Kleidessaum.
Doch wie er gram auch niederbückt,
Halb noch im Schlafe mürrisch zankt,
Sie halten scherzend ihn umrankt;
Da muß er endlich doch erwachen —
Was will er mit der Jugend machen?
Dieweil hat sich vom kleinen Schrecken
Die Amsel munter aufgerafft;
Zuerst hört's aus der Nachbarschaft
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*) Sie hatte von Walther geträumt.
a) Die Sterne.