22. Kloster Ettal und der Pfaffenwinkel.
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Schroffen des Wettersteines hinabsank, sind wir noch den Saumpfad herauf¬
gezogen, der sich fo steil den Ettaler Berg entlang windet, und noch zittert in
uns jeue wundersam wohlige Stimmung nach, welche den Städter überkommt,
wenn die bergfrische Einsamkeit ihm entgegengrüßt, wenn er neben sich den
schäumenden Gießbach in seinem felsigen Gelände rauschen hört und zum ersten
Male wieder nach langer Zeit würziger, moosdurchfeuchteter Waldgeruch die
Brust schwellt.
In der überfüllten Stube geht's gar lustig her; es ist ja heute Samstag
und der Bauer, der die Woche über schweigend seiner einförmigen Arbeit
nachgeht, liebt es am Feierabende der Rede freien, lauten Lauf zu lassen.
Jetzt gerade hat der eifrige Disput seinen Höhepunkt erreicht, und wer von
draußen den Lärm hört, der durch die niederen Fenster in die Dämmerung
hallt, könnte wohl glauben, daß ein heller Streit im Anzuge sei. Da läutet
man in der Klosterkirche drüben zum Abendsegen. Alsbald verstummt das
Johleu, andächtig falten die Männer ihre wetterharten Hände und.das Flüstern
der betenden Lippen zieht allein noch durch die regungslose Stille. Leise ver¬
klingen die letzten Glockentöne, die Anwesenden machen das Zeichen des Krenzes
nnd mit einem behäbigen „Guten Abend" nimmt der Wirt die unterbrochene
Unterhaltung wieder auf.
In solchen Augenblicken erfährt es der Fremde, daß noch die uralten
Gepflogenheiten streng kirchlicher Frömmigkeit im Volke sich erhalten haben.
Auch die Straße, die er gegangen ist, hat ihn darüber belehren können. Am
blühenden Rain und unter den weitschattenden Bäumen stehen die rohgezimmerten
Wegkreuze mit dem Bilde des Erlösers; die sogenannten Marterln haben ihn
mit schlichten Worten aufgefordert ein Vaterunser für jene zu beten, welche
jählings hier aus dem Leben geschieden sind, und tritt er von der Straße ins
Wirtshaus, so leuchteu ihm an der Türe die Anfangsbuchstaben der Namen
der heiligen drei Könige, mit Kreide angeschrieben, entgegen, denen die Macht
innewohnt die bösen Geister von der Schwelle zu bannen, während in der
Stube zuerst sein Blick auf den geschnitzten Herrgott mit dem geweihten Palm¬
zweiglein fällt, der zwischen den Fenstern seinen Platz gefunden hat. Denn
mag auch die Zeit sich gewandelt haben, mag modernes Leben und städtische
Anschauungsweise übermächtig in diese weltverlorenen Hochlandsdörfer ge¬
drungen sein, etwas vom ehemaligen Klosteruntertanen steckt noch in jedem
Bewohner des Ammergaues.
Und geistliches Gebiet ist ja der Gau gewesen seit nrvordenklichen
Zeiten. Das langgestreckte, von der grünen Ammer durchflossene Gebirgstal,
das sich vom einsamen Plansee an Ettal vorüber bis zum Passiousdorse
Oberammergau hinzieht, bildete einst einen Teil des Pfaffenwinkels, wie der
Volksmund jene weitgedehnten Gebiete nannte, welche eine festgefügte Kette
stattlicher Klöster gegen die Hochebene hin abschloß, und von denen es hieß,
daß man vierzehn Tage darin herumreisen und alle Mittage und Abende auf