86 Das römische Reich unter den Imperatoren.
durch die Ungeschicklichkeit und vielleicht die Untreue des Führers. Nun
geht in Gallien und Spanien die römische Herrschaft ganz zu Grunde.
Der dritte von den Söhnen des ersten Theodorich, Eurich, der im Jahre 466
dem zweiten der Brüder auf gleiche Weise, wie dieser dem ersten, ge¬
folgt war, bringt Alles, was die Römer in Aquitanien und Spanien
noch besaßen, in seine Gewalt, während die Burgunder ihr Reich nord¬
wärts den Arar hinauf bis in das Quellgebiet der Jcauna erweitern.
Narbo war schon durch Eurichs Vorgänger erobert und so verblieb im
Süden dem römischen Reiche nur der ostwärts von der Rhone und süd¬
wärts von der Druentia gelegene Streifen Landes. Im Nordwesten bestand
Armorica in voller Unabhängigkeit. Es ließen sich hier Britten nieder,
die vor den Sachsen aus ihrem Vaterlande flohen und das Land erhielt
nach ihnen den Namen Britannien. Niothimus, der König dieses Lan¬
des, versuchte umsonst, die jenseits des Liger wohnende römische Be¬
völkerung gegen Eurich zu schützen. Nordwärts des Liger herrschte bis
zu den Franken hin des Aegidius Sohn und Nachfolger Syagrius ohne
allen Zusammenhang mit dem Reiche. In Italien war Nicimer auch
mit Anthemius in Zwist und ließ von Constantinopel im Jahre 472 den
Anicius Olybrius, den Gemahl von Valentinianus' Tochter Placidia,
kommen, um ihn dem Anthemius gegenüberzustellen. Anthemius ver-
theidigte sich in Rom, das nach dreimonatlicher Belagerung erobert
wurde und nun zum drittenmale in diesem Jahrhundert und am schreck¬
lichsten die Schicksale einer eroberten Stadt erfuhr. Anthemius kam
um, aber Nicimer sammt dem vierten der durch ihn ausgestellten Herr¬
scher starb bald nach ihm. Jetzt machte, wie früher ein westgothischer,
ein burgundischer König den Versuch, über den römischen Purpur zu
verfügen. Bei den Burgundern war durch Gundioch ein den westgo-
thischen Königen verwandtes Geschlecht zur Herrschaft gelangt, mit wel¬
chem der Arianismus die katholische Religion unter ihnen zu verdrängen
begann. Von Gundiochs Söhnen, die seit dem Jahre 473 über ge¬
trennte Landestheile regierten, hatte Gundobald den Titel eines Patri-
cius, durch welchen das sinkende römische Reich die von den barbarischen
Königen gewonnene Gewalt als eine von ihm verliehene oder bestätigte
zu bezeichnen suchte. Er stellte im Jahre 473 einen Hofbeamten Namens
Glycerius als Herrscher auf. Doch ihm setzte Leo den Schwestersohn des
Marcellinus, Julius Nepos, entgegen. Dieser landete von Dalmatien aus
in Ravenna und schickte den Gegner, der sich nicht behaupten konnte, nach
Dalmatien, wo er Bischof von Salona wurde. Seinen eignen Sturz aber
bereitete der Feldherr Orestes, der ihn im Jahre 475 zur Flucht nach Dal¬
matien zwang, wo er bis zum Jahre 480 eine unsichere Herrschaft führte,
während in Italien die römische Herrschaft, wie sie in der Wirklichkeit
längst nicht mehr bestand, auch der Form nach aufhörte.