§ 36. Wilhelm I.
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als dem edelsten der deutschen Fürsten, die Kaiserkrone anbieten. Aber
der König erklärte, daß er sie nur annehmen werde, wenn alle deutschen
Fürsten damit einverstanden wären. Das war nun leider bei Österreich und
anderen Staaten nicht der Fall, und so blieb der machtlose Bundestag bestehen.
6. Obgleich im übrigen Europa auch im nächsten Jahrzehnt wilde
Stürme herrschten, so erfreute sich Preußen doch des Friedens. Napoleons
des Ersten Neffe hatte sich als Napoleon III. zum Kaiser der Franzosen auf¬
geschwungen. Im Bunde mit England und der Türkei demütigte er Ru߬
land im Krimkriege. Mit Frankreichs Hilfe stellte Viktor Emanuel
ein einiges Italien her und nahm den Österreichern die Lombardei. —
1857 erkrankte der kinderlose König Friedrich Wilhelm IV., und sein Bruder
Wilhelm tibernahm als Prinz-Regent die Regierung. Der König aber
ward durch einen sanften Tod am 2. Januar 1861 von seinen schweren
Leiden erlöst.
§ 36. Wilhelm I. (1861—1888).
1. Seine Jugend und erste Regiernngszeit. Wilhelm I.war der
zweite Sohn Friedrich Wilhelms III. Er wurde am 22. März 1797 zu
Berlin geboren. Wie sein Bruder durchlebte er eine ernste Jugendzeit. Zu¬
dem war er kränklich und machte dadurch der Königin Luise, seiner Mutter,
manche Sorge. Über des Knaben Sinnesart schrieb sie einst voll Freude:
„Er wird wie sein Vater: einfach, bieder und verständig." Als Prinz Wilhelm
13 Jahre alt war, stand er mit tiefem Weh im Herzen am Sterbebette
seiner geliebten Mutter. Bei Beginn des Befreiungskrieges durfte er feiner
Schwächlichkeit wegen nicht mit ins Feld ziehen. Doch nach der Schlacht
bei Leipzig rief ihn sein Vater zum Heere. Er zog mit nach Frankreich
und nahm an der Schlacht bei Bar sur Aube (Bar sür Ob) teil. Sein
königlicher Vater sah während derselben, daß ein russisches Regiment be¬
sonders große Verluste erlitt und doch standhielt. Da sprach er zu seinem
Sohne Wilhelm: „Reite hin und erkundige Dich nach dem Namen des
Regiments, das dort so tapfer kämpft!" Rasch sprengte Prinz Wilhelm
zu dem Regimente, obgleich die Kugeln rechts und links von ihm einschlugen,
fragte nach dem Namen desselben und der Zahl der Verwundeten und
Toten und erstattete dann seinem Vater Bericht. Für die bewiesene Tapfer¬
keit und Kaltblütigkeit erhielt er einen russischen Orden und das Eiserne
Kreuz. Beide Orden hat er bis an sein Lebensende besonders hochge¬
schätzt. — Mit Leib und Seele war er Soldat und wurde durch seine
Pflichttreue ein herrliches Vorbild für das ganze Heer.
2. Vermählung. Kaiserin Augusta. Er verheiratete sich 1829 mit
der edlen Prinzessin Augusta von Weimar. Sie ist ihm durch 60 Jahre
vine treue Gefährtin gewesen. Als rechte „Landesmutter" gründete sie den
„Vaterländischen Frauenverein". Dieser pflegt im Kriege die Ver¬
wundeten und sorgt für die Frauen und Kinder der ausgezogenen Wehr¬
leute. Das hat er namentlich getan in den Kriegsjahren 1866 und 1870/1.
Auch im Frieden bringt er überall da Hilfe, wo Unglück herrscht (Wassers-
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