Full text: Deutsches Lesebuch für ein- und zweiklassige Schulen

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jeder Leserin wird eine Zeile zugeteilt, welche jedes für sich allein 
zu lesen hat. Da stellt man nun das Büttchen oder den Eimer 
neben die Weinstöcke, und nachdem man hier und da einige Blätter 
abgestreift hat, um auch die versteckten Trauben zu finden, wird mit 
dem krummen Messer oder der Traubenschere ein Träublein nach 
dem andern abgeschnitten. Viele sind schon faul, aber das liebt man 
gerade, es ist ja die Edelfäule, welche den Wein nur um so vor¬ 
züglicher macht. Die zu Boden gefallenen Beeren werden sorgsam 
aufgerafft, oft unter dem Laub und feuchten Weinbergsgras hervor¬ 
gescharrt. Der Herr des Weinbergs betrachtet es heute als eine 
wichtige Aufgabe, darauf zu achten, ob dies Geschäft des Beeren¬ 
raffens auch wirklich ausgeführt wird. Dies hindert aber nicht, daß 
die Leser sich allerlei lustige und schaurige Geschichten erzählen oder 
durch Anstimmen fröhlicher Lieder die Arbeit fördern. Auch von 
Zeit zu Zeit ein Träublein zu kosten, ist ihnen nicht verwehrt. 
Hin und her wandelt, auf einen Weinbergspfahl gestützt, der 
Legelträger; auf seinem Rücken trägt er an ledernem Riemen das 
hölzerne Legel, in welches die Trauben aus den kleinen Eimern und 
Bütten unaufhörlich hineingeschüttet werden. Vor dem Weinberg 
steht über einer großen Bütte die Traubenmühle, einer riesigen Kaffee¬ 
mühle nicht unähnlich; in diese entleert der Legelträger seine Last. 
Da liegen sie dann, die gelben und die roten, die blauen und die 
weißen Früchte. Aber hüte dich, schöns Träubelein! Die Mühle 
wird gedreht, und in kurzer Frist ist alles zerquetscht und in einen 
häßlichen Brei verwandelt, der von einer süßen, schmutzigtrüben Brühe 
umgeben ist. An wenigen abgelegenen Orten werden auch nach alter 
Vätersitte die Trauben in einer Tretbütte von einem Tretbuben, der 
in mächtigen Stiefeln steckt, zertreten. Jetzt erscheint auch der Fuhr¬ 
mann mit dem Ladfaß, mit Dübeln wird die Traubenernte dahinein 
geladen und nach Hause zur Kelter gefahren. 
5. Unterdessen herrscht im Weinberg emsige Arbeit und fröh¬ 
liches Leben, bis der Schall der Mittagsglocke aus dem Städtchen 
herübertönt; dann ruht für eine Stunde die Arbeit, und die ganze 
Gesellschaft begibt sich an den ehrwürdig bemoosten Steintisch, der 
sich an einer etwas freigelegenen Stelle befindet. Das Städtchen 
liegt uns zu Füßen, zwischen die Berge geschmiegt; weiße Landhäuser 
leuchten von den Abhängen, und verfallene Burgruinen strecken ihre 
Turmstümpfe zum Himmel. Drunten glänzt der prächtige Strom. 
Von allen Bergen in der Runde schallt Gesang, Lachen und fröhliches 
Jauchzen, hier und da flackert auch ein Feuerchen auf. Das gehört 
einmal dazu. Die Kinder des Hauses, welche anfangs fleißig mit¬ 
lasen, jedes seine Zeile, dachten das auch und haben, statt weiter 
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