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bleiben, so geschwind erblickt und zu erhaschen weiss. Allein das macht’s
nicht aus; denn eine Fliege hat nach den Untersuchungen der Natur¬
kundigen viele hundert Augen und nimmt doch das Netz nicht in Acht
und ihre Feindin, die gross genug darin sitzt. Was folgt daraus? Es
gehören nicht nur Augen, sondern auch Verstand und Geschick dazu,
wenn man glücklich durch die Welt kommen und in keine verborgenen
Fallstricke gerathen will. — Wie fein ist ein Faden, den eine Spinne in
der grössten Geschwindigkeit von einer Wand bis an die andere zu ziehen
weiss! Und doch versichern abermals die Naturkundigen, dass ein solcher
Faden, den man kaum mit blossen Augen sieht, wohl sechstausend Mal
zusammengesetzt sein könne. Das bringen sie so heraus. Die Spinne
hat an ihrem Körper nicht nur eine, sondern sechs Drüsen, aus welchem
zu gleicher Zeit Fäden hervorgehen. Aber jede von diesen Drüsen hat
wohl tausend feine Dehnungen, von welchen keine umsonst da sein wird.
Wenn also jedesmal aus allen diesen Dehnungen ein solcher Faden hervor¬
geht, so ist an der Zahl sechstausend nichts auszusetzen, und dann kann
man wohl begreifen, dass ein solcher Faden, obgleich so fein, doch auch
so fest sein könne, dass das Thier mit der grössten Sicherheit daran
auf- und absteigen und sich im Sturme und Wetter darauf verlassen
kann. Muss man nicht über die Kunst und Geschicklichkeit dieser Ge¬
schöpfe erstaunen, wenn man ihnen an ihrer stillen und unverdrossenen
Arbeit zuschaut, und an den grossen weisen Schöpfer denken, der für
alles sorgt und solche Wunder in einem so kleinen und unscheinbaren
Körper zu verbergen weiss ?
II.
Das mag alles gut sein, denkt wohl mancher, wenn sie nur nicht
giftig wären, und läuft davon und zertritt sie, wo er sie findet. Aber
wer sagt denn, dass unsere Spinnen giftig seien? Noch kein Mensch ist
in unsern Gegenden von einer Spinne vergiftet worden. Giebt es nicht
hier und da Leute, die sie auf’s Brot streichen und verschlucken? Wohl
bekomm’s, wem es schmeckt! Auch sonst thun diese Thierlein, die nur
für die Erhaltung ihres eigenen Lebens besorgt sind, keinem Menschen
etwas zu Leide. Im Gegentheile leisten sie in der Natur einen grossen
Nutzen, den man aber, wie es oft geschieht, nicht hoch anschlägt, weil
jede einzelne wenig dazu beizutragen scheint. Es ist das geringste , dass
sie hier und da einer Stubenfliege den Garaus machen. Für diese wäre
noch anderer Bath. Aber sie verzehren auch jährlich und täglich eine
grosse Anzahl anderer sehr kleiner Mücklein, die uns durch ihre Menge
erstaunend beschwerlich und schädlich werden würden, und gegen welche
man sich nicht erwehren könnte, wenn sie überhand nähmen. Sind nicht
manchmal ganze Ackerfurchen mit Spinngeweben überzogen und glänzen
im Morgenthau? Da geht manches Mücklein zu Grunde, das die auf¬
keimende Saat vielleicht angegriffen und verletzt hätte.
Ein Gefangener machte einst in seinem einsamen Kerker eine Spinne
so zahm, dass sie seine Stimme kannte und allemal kam , wenn er sie
lockte und etwas für sie hatte. Sie verkürzte ihm an einem Orte, wo
kein Freund zu ihm kommen konnte, manche traurige Stunde. Aber als
der Kerkermeister es bemerkte, brachte er sie um’s Leben. Was ist
verabscheuungswürdiger? Ein solches Thier, das doch noch einem Un¬
glücklichen einiges Vergnügen machen kann, oder ein solcher Mensch, der
dem Unglücklichen auch dieses Vergnügen missgönnt und zerstört?
Ein anderer Gefangener, der sonst nichts zu thun wusste, gab lange
Zeit auf die Spinnen Acht und merkte, dass sie auch Wetterpropheten
sind. Bald liessen sie sich sehen und arbeiteten, bald nicht; einmal
spannen sie träge, ein ander Mal hurtig, lange Fäden oder kurze, einmal
näher zusammen, ein ander Mal weiter auseinander, so , oder so; und
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