Object: Für Ober-Sekunda und Prima (Prosah. 7)

164 
Prosccheft VII. 
sonders die traurige Zeit, wo die Häuser Laneaster uud Port in blutiger 
Fehde die englische Aristokratie dezimierten und das Land verwüsteten, 
die Zeit der Rosenkriege, stand den Bewohnern jener Grafschaft noch in 
lebendigster Erinnerung. Der große Held der Rosenkriege war der 
fünfte Graf von Warwick, Richard Beauchamp, und ein anderer Graf 
von Warwick, Richard Neville, ist als der Königsmacher auch uns aus 
Historie uud Dichtung wohlbekannt. 
War es ein Wunder, wenn jene Periode der englischen Geschichte, 
von der seine Heimat ihm vor allen anderen erzählte, zugleich diejenige, 
welche Eduard Hall in seiner Chronik behandelt hatte, Shakespeare 
gleich im Beginn seiner dramatischen Laufbahn zur Darstellung und 
künstlerischen Bewältigung reizte? 
Es ist nicht gleichgültig, wo ein Mensch, zumal ein Genie geboren 
wird, ob er einem schon verbrauchten oder einem lebensfrischen Volks- 
stamm entsprießt, welche Luft er in seiner Kindheit atmet, welche Lieder 
ihm an der Wiege gesungen wurden. 
Und so mag es kein Zufall sein, daß Shakespeare in Warwick ge¬ 
boren wurde; es mag ein Zusammenhang zwischen seiner Herkunft und 
der eigentümlichen Richtung seines Genius vorhanden sein. Shakespeare 
ist seit der altenglischen Periode der erste unter den großen englischen 
Dichtern, in dem das germanische Element sich mit übermächtiger Ge¬ 
walt wieder geltend macht und alles, was an ausländischen Bildungs- 
elementen vom Nationalgeist aufgenommen war, in seinen Dienst zwingt. 
Bei ihm erklingt zum erstenmal wieder dieser erschütternde Ton tiefster 
Empfindung, findet sich diese einfach kühne Art des dichterischen Aus¬ 
druckes, welche ohne Vorbereitung und ohne Vermittelung — scheinbar 
ohne jeden Aufwand künstlerischer Mittel — uns plötzlich mitten in die 
Sache hinein versetzt, mit einem Wort: das Stimmungsvolle, das ein 
Hauptmerkmal germanischer Poesie ist. 
Shakespeares Knabenjahre scheinen sehr glücklich gewesen zu sein. 
Wie auf ein verlorenes Paradies blickt der Dichter im späteren Leben 
auf jene Tage der Unschuld, jugendlicher Freuden und jugendlicher 
Freundschaft zurück, die Zeit, wo er nicht weiter vorwärts dachte als: 
„solch ein Tag wie heut' sei morgen auch, und daß er ewig Knabe 
bleiben werde", wo er mit seinen Spielgenossen „Unschuld für Unschuld 
tauschte" und sich nicht träumen ließ, „man täte Böses" in der Welt. 
Die schöne Zeit währte nur kurz. 
Um die Zeit, wo Shakespeare — ein vierzehnjähriger Knabe — 
die Schule verlassen haben mag, begann der Horizont seines Lebens sich 
mählich zu verfinstern. Es war zuerst der Wohlstand seiner Familie, 
der ins Schwanken geriet, um dann zu sinken. Wir können die traurige 
Entwickelung der Dinge, welche die Familie Shakespeare in Armut 
stürzte uud um ihr Ansehen brachte, ihr Haupt John Shakespeare seiner
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.