Full text: Lehr- und Lesebuch oder der sinnliche und sittliche Anschauungsunterricht für die Mittelklassen katholischer Volksschulen

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Aber kaum hatte er ausgesprochen, so wird der Spatz selbst 
von einem Paar Krallen gepackt. Es war der Sperber, welcher 
ihn hatte sitzen sehen, und aus der Luft auf ihn herabgestossen 
war. Jetzt war die Reihe an dem Spätzlein, gute Worte zu 
geben. „Schenke mir doch das Leben/4 rief es, „ich habe dir 
ja nichts zu Leide gethan." — „Das kann nichts helfen," ant¬ 
wortete der Sperber, indem er ihm den Kopf abbiss: „Es ist nicht 
anders, du bist mein, denn ich bin gross und du bist klein." Doch 
auch der Sperber konnte sich nicht lange seines Sieges freuen. 
Ein Adler mit noch krummerem Schnabel und stärkeren Krallen 
stürzte auf ihn herab. Da half kein Widerstand und kein 
Flehen, der König der Vögel antwortete dem zerfleischten Sperber 
mit denselben Worten, wie dieser früher dem Sperling: „Es ist nicht 
anders, du bist mein, denn ich bin gross und du bist klein." 
Allein der Adler war auch noch nicht der Stärkste. Ehe er 
es sich versah, flog ihm eine Kugel durch die Brust, welche der 
Jäger auf ihn abgeschossen hatte. Wehren konnte er sich nicht, 
aber er beschwerte sich doch, dass der Jäger ihn ohne Ursache 
todt schiesse. Doch der Jäger wusste dasselbe Sprüchlein, welches 
auch die andern gesagt hatten: „Es ist nicht anders, du bist mein, 
denn ich bin gross und du bist klein." 
Da war die Geschichte zu Ende, denn der Mensch ist das 
mächtigste und klügste Geschöpf auf Erden. Die Menschen 
hingegen sollen sich unter einander nicht morden und 
überwältigen. Denn der liebe Gott, welcher viel mächtiger 
ist als alle, ist auch gütiger als alle und will, dass die Menschen 
sich einander lieben sollen. 
8. Der Wolf und der Mensch. 
Der Fuchs erzählte einmal dem Wolfe von der Stärke des Men¬ 
schen. Kein Thier, sagte er, könnte ihm widerstehen, und sie müßten 
List gebrauchen, um sich vor ihm zu retten. Da antwortete der Wolf: 
„Wenn ich nur einmal einen zu sehen bekäme, ich wollte doch auf ihn 
losgehen!" — „Dazu kann ich dir helfen," sprach der Fuchs; „komm 
nur morgen früh zu mir, so will ich dir einen zeigen." Der Wolf 
stellte sich frühzeitig ein, und der Fuchs ging mit ihm an den Weg, 
wo der Jäger alle Tage herkam. Zuerst kam ein alter, abgedankter 
Soldat. „Ist das ein Mensch?" fragte der Wolf. — „Nein," ant¬ 
wortete der Fuchs, „das ist einer gewesen." Darnach kam ein kleiner 
Knabe, der zur Schule wollte. — „Ist das ein Mensch? — „Nein, 
das will erst einer werden." — Endlich kam der Jäger, die Doppel¬ 
flinte auf dem Rücken und den Hirschfänger an der Seite. Da sprach 
der Fuchs zum Wolfe: „Siehst du, dort kommt ein Mensch, auf den 
mußt du Usgehen; ich aber will mich fort in meine Höhle machen." 
Der Wolf ging nun auf den Menschen los. Der Jäger, als er
	        
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