Becker: Telemachus. 27
könnte. Odysseus, meinten sie, komme doch nimmer zurück; der sei
gewiß längst zu den Toten eingegangen.
Aber so leicht verdrängten die Schwätzer das Andenken an den
teuern Gemahl nicht aus dem treuen Herzen der Penelope; so leicht⸗
sinnig wollte sie nicht ein Bündnis auflosen, das einst das Glück
hrer Jugend gewesen war. Er kehrt dennoch wieder, dachte sie
mer; und wenn sie Tag und Nacht in Sehnsucht und Angst ver—
weint hatte, so richtete diese frohe Hoffnung ihre Seele wieder auf.
Aber e verging Jahr um Jahr, und kein Schiff brachte der
reuen Königin den ersehnten Gatten.
Penelope hielt jeden Wanderer an, der nach Ithaka kam, und
forschle bei ihm nach Kunde von den Helden. Die andern, erzählte man,
ien längst zurück, Nestor in Pylos, Menelaus in Sparta; vom
Odysseus wůßte keiner, wo er geblieben, ob er lebe oder tot sei. Neun
Jahre harrte so die treue Frau in ihren Thränen, und neunzehn Jahre
daren bereits vergangen, seit sie der Gemahl verlassen hatte. Er hatte
ihr bei der Abreise ein Knäblein hinterlasfen, Telemachus geheißen,
das nun zum schönen Jünglinge herangewachsen war. Der war ihr
einziger Trost; aber ach! er war viel zu schwach gegen die übermütige
Rolle der Werber, die mit jedem Jahre zudringlicher wurde und zuletzt
auf ein heilloses Mittel verfiel, die arme Frau mit Gewalt zur Rückkehr
in ihres Vaters Haus zu zwingen. Empoͤrender ist wohl nie die Hülf⸗
losigkeit eines verlassenen Weibes mißbraucht worden, als von diesen
uberlaͤstigen Freiern. Sie verbanden sich mit allen Fürstensöhnen aus
der Nachbarschaft und beschlossen sämtlich, über hundert an der Zahl,
jeden Morgen in Odysseus Palast einzusprechen, von Odysseus' Herden
nd Kornboden zu zehren und von seinem Weine zu zechen, mit einem
Worle, so lange von seinem Besitze zu prassen, bis Telemachus durch
die Furcht vor gänzlicher Verarmung genötigt sein würde, die stand—
hafte Mutter mit Gewalt aus dem Hause zu stoßen und sie dadurch zu
ner zweiten Heirat zu zwingen. Seit dieser schündlichen Verabredung
waren die wenen Hallen im Palaste des Odysseus von früh bis in die
Nacht mit den ungebetenen Gästen gefüllt, die alle Diener des Königs
zu ihrem Willen zwangen, von dem fremden Gute an sich rissen, was
hnen beliebte, und mit rohem Spotte und Gelachter den schwachen Be—
slher verhöhnten. Der Reichtum der Herden nahm sichtbar ab, die Fülle
es Kones und Weines schwand, und niemand war, der den uͤber—
mutigen Schwelgern Einhalt gethan hätte. Penelope saß oben in ihrem
Gemache am Webestuhle und weinte; Telemachus, so oft er sich unter
der anmaßenden Schaͤr sehen ließ, ward ausgelacht und verspottet.
Ein Gott hatte über Odysseus' Haus solches Weh gesandt. Po—
seidon (Neptun), der Beherrscher des Meeres, zürnte dem Helden;
denn er war schwer von ihm beleidigt. Daher peitschte er ihn von
Sud nach Nord, von Ost nach West auf dem weiten Meere umher,
zertrümmerte seine Schiffe, tötete seine Geführten und führte ihn durch
Slrudel und Klppen zu Völkern, dexen Sitte und Sprache ihm
fremd waren. Jetzt, wäͤhrend seine Habe von frechen Nachbarn ver—
zehrt ward, saß Odysseus weit von der Heimat gefangen auf einer