Full text: Lesebuch für Volksschulen

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Anna nucí) mit!" Der Ewerführer, gerührt von dieser treuen Anhänglichkeit, 
willigte sofort ein, und die kleine dreijährige Anna wurde denn auch alsbald 
herbeigeschafft. 
Als der brave Mann mit den beiden Kindern fortgehen wollte, rief jedoch 
das kleine zarte Geschöpf weinend nach seiner lieben Marie. Es stellte sich heraus, 
daß noch ein drittes Schwesterchen von sechs Jahren im Waisenhanse war. Der 
Mann stutzte. Bald aber siegte sein gutes Herz, und mit den Worten: „Wo zwei 
satt werden, kann auch noch die dritte essen", zog er mit den drei Kindern heim¬ 
wärts. 
Die Frau des Ewerführers wurde zwar im ersten Augenblick über den reichen 
Kindersegen etwas stutzig, empfing aber alle drei mit gleicher Liebe. In wenigen 
Stunden war dieser Vorfall in der Umgegend — am Hafen — bekannt geworden, 
und von allen Seiten trug man Betten, Kleider und Wüsche herbei, um die 
Kleinen in dem neuen Heim bestens unterzubringen. 
Das neue Elternpaar sowie die Nachbarn haben ihre helle Freude an den 
drei Kindern. — Die wirklichen Eltern waren in einer Nacht ein Opfer der 
schrecklichen Seuche geworden. Nach einer Zeitung. 
195. Christoph Kollheim. 
Wie mancher hat schon gesagt: „Was mich nicht brennt, das blas' ich 
nicht!" und ist vorübergegangen, wo er hätte helfen sollen. Das ist so ein 
Sprichwort, womit sich die Geizigen, Hartherzigen und andere Lente dieser Art 
beruhigen, wenn der Geist nicht willig und das Fleisch schwach ist. So dachten 
auch der Priester und Levit, als sie den Armen in seinem Blute liegen ließen 
und sich ans dein Stande machten. Dachte auch der Samariter so? Dachte auch 
der brave Christoph Kollheim in einem Dvrflein bei Dnderstadt so? Der 
war ein blutarmer Schelm und ein Witwer dazu und hatte drei Kinder, die gar 
oft sagten: „Vater, wir sind hungrig!" Das hört ein Vaterherz gern, wenn er 
Brot genug hat und noch etwas dazu, aber wie schneidet das ins Herz, wenn 
keins da ist. Und just so ging's dem armen Kollheim oft genug. Das Betteln 
verstand er nicht; aber er verstand Schuhe zu flicken, Kochlöffel zu schnitzen und 
Besen zu binden und solcher kleinen Künste mehr, was er auch so fleißig that, 
daß er sich kümmerlich mit seinen Kindern durchbrachte — aber es kam doch 
mancher „lange Tag". 
Der Kollheim hatte einen recht guten Freund, der hieß Volkmann, war 
auch ein Witwer wie er und hatte sieben unerzogene Kinder. „Gleich und gleich 
gesellt sich gern", heißt's im Sprichworte, und „das Unglück ist der beste Leim". 
Der Volkmann und seine Kinder hatten auch der Fasttage so viele, daß sie schier 
die schwere Kunst bald gelernt hätten, wenn nicht das Lehrgeld gar zu schwer 
wäre. Beide Leidensbrüder waren ein Herz und eine Seele. Da sagte einmal 
der Volkmann zu seinem Busenfreunde Kollheim: „Ich ziehe nach Lauterberg ins 
Hannöversche; dort ist mehr Verdienst." Gesagt, gethan — und der Hausrat 
kostete nicht viel Fracht. Der Kollheim wünschte ihm alles, was ihm heilbringend 
sein kann; aber der Arme fand's in Lauterberg nicht. Denn er erkrankte und 
starb, und die hungernden Kinder schickten die von Lauterberg hin, wo sie her¬ 
gekommen. Die Bauern im Dorfe dachten: „Was mich nicht brennt, das blas' 
ich nicht!" und ließen die hungernden Waisen laufen. Dachte auch der hungernde 
Kollheim so? Nein, lieber Leser, der nahm die sieben Waisen seines Freundes in 
seine kleine Hütte zu seinen Kindern, sah mit einer heißen Thräne gen Himmel
	        
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