Full text: Preußischer Kinderfreund

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armen Mannes, die vor dem Hause waren, spielt mit ihnen, geht mit« 
ihnen in die Stube und denkt nimmer an’s Fortgehen. Nicht anders,, 
als ein Schäflein, das sich von der Heerde verlaufen hat und in der 
Wildniss herumirrt; wenn es wieder zu seines Gleichen kommt, so 
hat es keinen Kummer mehr. Der Tagelöhner fragt das Kind, wo 
es herkomme. „Vom Gutenberg.“ — „Wie heisst dein Vater?“ 
„Ich habe keinen Vater.“ — „Wie heisst deine Mutter?“ „Ich habe 
keine Mutter.“ — „Wem gehörst du denn an?“ „Ich gehöre Nie¬ 
mandem sonst an.“ Aus Allem, was er fragte, war nur so viel her¬ 
auszubringen, dass das Kind von den Bettelleuten sei aufgelesen 
worden, dass es mehrere Jahre mit ihnen herumgezogen, dass sie es 
zuletzt haben sitzen lassen, und dass es jetzt da sei. Als der Tage¬ 
löhner mit den Seinigen zu Nacht ass, setzte sich das fremde Kind 
auch an den Tisch. Als es Zeit war zu schlafen, legte es sich auf 
die Ofenbank und schlief auch; so den andern Tag, so den dritten.. 
Denn der Mann dachte: „Ich kann das Kind nicht wieder in sein 
Elend hinausjagen, so schwer es mir ankommt, eins mehr zu ernäh¬ 
ren“. Aber am dritten Tage sagt er zu seiner Frau: „Frau, ich will’s 
doch auch dem Herrn Pfarrer anzeigen“. Der Pfarrherr lobte die 
gute Denkart des armen Mannes. „Aber das Mägdlein,“ sagte er, 
„soll nicht das Brot mit Euren Kindlein theilen; sonst werden die 
Stücklein zu klein. Ich will ihm einen Vater und eine Mutter su¬ 
chen“. — Also ging der Pfarrherr zu einem wohlhabenden und gut¬ 
denkenden Manne in seinem Kirchspiel, der selber wenig Kinder hatte^ 
und sagte: „Peter, wollt Ihr ein Geschenk annehmen?“ — „Nachdem’s 
ist!“ — sagte der Mann. — „Es kommt von unserm lieben Herrgott.“ 
— „Wenn’s von dem kommt, so ist’s kein Fehler.“ — Also bot ihm 
der Pfarrherr das verlassene Mägdlein an und erzählte ihm die Ge¬ 
schichte dazu. Der Mann sagte: „Ich will mit meiner Frau reden.. 
Es wird nicht fehlen“. Der Mann und die Frau nahmen das Kind 
mit Freuden auf. „Wenn’s gut thut“, sagte der Mann, „so will ich’s 
erziehen, bis es sein Stücklein Brot selber verdienen kann. Wenn’s 
nicht gut ,fhut, so will ich’s wenigstens behalten bis in’s Frühjahr. 
Denn dem Winter darf man keine Kinder anvertrauen.“ — Jetzt hat er’s 
schon viermal überwintert und viermal übersommert auch. Denn das 
Kind thut gut, ist folgsam und dankbar, und fleissig in der Schule. 
Und Speise und Trank ist nicht der grösste Gotteslohn, den das 
fromme Ehepaar an ihm ausübt, sondern die christliche Zucht, die 
väterliche Erziehung und mütterliche Pflege. Wer das fremde Töchter¬ 
lein unter den andern in der Schule sieht, erkennt es nicht wieder, 
so gut sieht es aus, und so sauber ist es gekleidet. 
Was ihr gethan habt Einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, daL 
habt ihr mir gethan. 
26. Das Vogelnest. 
„Knabe, ich bitt' dich, so sehr ich kann: Ä rühre mein liebes Nest nicht 
an! O sieh nicht mit deinen Blicken hin! Es liegen ja meine Kinder drin; 
die werden erschrecken und ängstlich schrei'n, wenn du schau'st mit den großen 
Augen hinein."
	        
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