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beschichten. Die Bäder schnurren, und die Mädchen spinnen den Flachs
zu einem feinen Faden. Der feine Flachs am Stabe war eben aufmerk¬
sam aufs Mütterchen, das gerade vom kleinen Däumling und vom
„Tischchen, deck’ dich“ erzählte, da ward er von den Fingern erfasst
und umgedreht zum festen Faden. Eingewickelt in den grossen Knäuel,
ist er auf der Spindel und konnte das Ende nicht einmal erfahren. Der
Weber wartet schon auf ihn. Viele Fäden spannt er auf den Webstuhl,
andere wirft er zwischen durch. „Klipp, klipp, klapp!“ geht es den
ganzen Tag, vom frühesten Morgen bis zur späten Nacht,
Nach kurzer Zeit hat sich der Flachs zur Leinwand umgewandelt.
Grau und unansehnlich ist sie aber noch, kein Mensch mag sie so leiden,
kein Kind ein Hemdehen oder Kleidchen von ihr haben; drum geht ihre
Qual von neuem an. Auf grünem Anger wird sie ausgespannt und liegt
den ganzen Tag im heissen Sonnenschein. Männer gehen zwischen den
ausgespannten Stücken durch und begiefsen sie mit Wasser. Wochen¬
lang geht diese Wasserfolter fort, bis die unansehnliche, graue Farbe sich
nach und nach ins schönste Weiss verwandelt hat. Das weisse Linnen
blinkt von fern wie Schnee. Es wird zuletzt getrocknet, zusammengerollt
und in des Kaufmanns Laden neben vielen anderen Stücken aufgestellt.
Zum Kaufmanne kommt die Mutter und sucht das schönste Stück
sich aus. Das Kind daheim braucht neue Hemdehen und ein neues Tüchlein
übers Bett, Die scharfe Schere spreizt ihre langen Beine und fährt
mitten durch die Leinwand, hier links, dort rechts, wie es die Form
des Hemdehens verlangt, das aus ihm gefertigt werden soll. Die spitze
Nadel mit dem langen Faden durchbohrt die Linnenstücke an tausend
Stellen, und der Faden verbindet sie zum Kleidungsstücke. Doch auch
jetzt ist die Not des Flachses noch nicht zu Ende. Kaum hat das Kind
das feine, weisse Schürzchen oder Kleidchen, den schönen Kragen, der
aus dem Linnen angefertigt wurde, angezogen, so hat es unvorsichtig
hier einen Schmutzfleck, dort ein Tintenkleckschen darauf gemacht; die
Kleider müssen zur Wäsche ins heisse Wasser, in die scharfe Lauge von
heissender Seife. Hin und her wird die Wäsche gequält, gerieben und
gezupft, gleich einem Diebe aufgehangen, mit glühenden Plätteisen
gepeinigt, vom Kinde selbst beim Spiel gar übel mitgenommen, hier
geschlitzt und dort vom Dorn durchstochen, bis das Linnen endlich so
dünn und schlecht geworden ist, dass kein Stich mehr halten will.
Da pfeift auf der Strasse ein sonderbarer Mann ein abenteuerliches
Lied. Die Kinder kommen zur Mutter und bitten: „Komm, bring das
alte, zerrissene Linnen zum Hadernsammler!“ — denn der Mann hat
rund um sich die schönsten bunten Bilder, und stets erhält das Kindlein
eins davon, wenn ihm die Mutter das alte Linnen giebt. Nun geht’s dem
Flachse auf seine alten Tage schlimm. Lange Zeit hat er dem Menschen,
seinem Herrn, treulich gedient, doch nun er alt und schwach geworden
ist, wird er in den Sack gesteckt und „Lump“ geheissen. Der Lumpen¬
sammler hat den Sack gefüllt und wirft ihn auf den Wagen zu vielen
anderen Säcken mit gleichem Inhalte.
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