286
strohgefüllten Bachraum durcheilt und kriecht eben vorsichtig
auf der entgegengesetzten Seite durch das Loch zwischen den
Ziegeln auf den Scheunensims. Im nächsten Augenblicke springt
er mit kühnem Satze auf einen Vorsprung des angrenzenden
Stallgebäudes. Er hat es auf ein feistes Huhn abgesehen.
Leise schleicht er die Hühnertreppe hinauf und in den Stall
hinein. Pie feine Mardernase wittert auch im Dunkel die Nähe
einer Henne. Im Augenblicke ist ihr der Hals durchgebissen,
ehe sie noch einen Laut ausstofsen konnte ; darum bleibt alles
still bis auf das verwunderte Gackern einiger Hühner, die sich
das Flügelschlagen ihrer sterbenden Schwester nicht erklären
können. Jetzt eilt der Räuber mit der erbeuteten Henne auf
demselben Wege zurück, den er gekommen ist, und gelangt
glücklich zu seinen Jungen. Diese empfangen ihn stürmisch
mit hochgeschwungenem Schwänzchen und lautem Geschrei und
fallen gierig über das saftige Fleisch her.
In der nächsten Nacht wird er zur Abwechselung dem
Taubenschlage einen Besuch abstatten. Morgen holt er sich
vielleicht die feiste Ratte, welche an der Düngerstätte ihr
Wesen treibt, und übermorgen füllt er seinen Magen mit süssen
Pflaumen und Birnen, die der geübte Kletterer von den Bäumen
holt. Im Falle der ärgsten Not nimmt er auch mit Erbsen
fürlieb, mit denen er den knurrenden Magen befriedigt. So
treibt er es Sommer und Winter, bis der Bauer ihn schliesslich
eines Tages doch erwischt, sei es in der Kastenfalle, sei es auf
dem Fruchtbaume, von dem der Obstdieb herabgeschossen wird.
Seinen Pelz trägt er in die Stadt zum Kürschner, der ¡hm
für denselben, besonders zur Winterszeit, einen hübschen Preis
bezahlt und ihn alsdann zu schönem, wärmendem Pelzwerke
verarbeitet. Müller.
194. Die Gäste -es Kirsch-aums.
Von dem Tage, an welchem seine erste Blüte aufplatzt, bis zu
dem Tage, an welchem der Pachter die letzte Frucht abnimmt, ist der
Kirschbaum Wirt und Wirtshaus zugleich. Alle Tage hält er offene
Tafel und ist sie selbst. Wer Lust hat, kann sich niedersetzen und zu¬
langen ; geht er satt und voll von dannen, so braucht er uicht danach
zu fragen, was er schuldig ist. Du kannst leicht denken, daß es in
diesem Wirtshause an Gästen niemals fehlt.
»