Full text: [Theil 2 = (6. Schulj.)] (Theil 2 = (6. Schulj.))

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und ich thaten ein Gleiches. Mein Herz wurde so muthig, daß ich mich 
oft nach meinem Zuhörer umschaute und ihm ganz dreist in das Gesicht 
sah. Er sang mit großer Andacht, hatte die Hände gefaltet, und die 
hellen Thränen fielen über den eisgrauen Knebelbart auf das Buch hinab. 
Jetzt war das Lied beendet; ich ging auf ihn zu; er schüttelte mir treu¬ 
herzig die Hand und sprach: „Großen Dank, Herr Cantor! Wo ist der 
Gotteskasten?" — Mein früherer Argwohn, daß es auf Plünderung ab¬ 
gesehen sei, war nun gänzlich verschwunden. Ich holte unsere Armen¬ 
büchse, und der Husar warf ein Achtgroschenstück hinein. „Wir beide 
aber, wir theilen den Rest, Herr Schulmeister!" sagte er dann, indem 
er noch zwei Achtgroschenstücke aus der Tasche zog, „da nehm Er das 
eine für seine Mühe!" Ich schlug es aus; aber er war so ungestüm, 
daß ich es schlechterdings nehmen mußte. „Nehm Er, nehm Er," sprach 
er; „es klebt kein Blut daran!" — Jetzt verließ er das Gotteshaus, 
und wir begleiteten ihn. Sowohl meine Frau, als ich, waren unglaublich 
bewegt; ich konnte mich aber nicht enthalten, unsern wunderbaren Gast 
auf dem Kirchhofe zu fragen, wie ihm denn der Gedanke gekommen sei, 
hier seine Morgenandacht zu halten. 
„Das will ich Euch wohl sagen, Ihr lieben Leute," antwortete er, 
indem er uns beide bei der Hand nahm. „Gestern Abend sollte ein ver¬ 
lorener Posten ausgestellt werden, um mitten unter den herumschweifenden 
Patrouillen den Feind aus einem gewissen Punkte zu beobachten. Jeder 
von uns wußte, was die Sache auf sich hatte; —- wir sind seit einigen 
Wochen brav daran gewesen. — Unser Rittmeister fragte nach Freiwilligen; 
niemand bezeigte Lust. Endlich ritt ich vor, und meine drei Jungen 
konnten ja wohl den alten Vater nicht allein lassen. — Er braucht es 
nicht zu wissen, Herr Schulmeister, wie wir es anfingen; — genug, wir 
schlichen uns durch und hielten die ganze Nacht auf einer buschigen An¬ 
höhe. Links und rechts blitzte es um uns her; wir sahen bald hier, 
bald dort feindliche Mannschaften. Nicht meinetwegen — denn wie lange 
werde ich noch reiten? — sondern nur wegen meiner Söhne seufzte ich 
in der finstern Nacht: „Herr, erhalte uns!" — Kaum hatte ich das 
heraus, als es anfing zu dämmern, und der Morgenstern mir in's Auge 
blitzte. „Wie schön leuchtet der Morgenstern!" fiel mir in diesem Augen¬ 
blicke aus meiner Jugendzeit ein; gar manches, was ich seitdem gethan, 
und — was wohl nicht allemal recht war, hing sich wie eine Bleilast 
daran; ich rechnete nach, seit wie viel Jahren ich in keine Kirche ge¬ 
kommen, und ich that Gott das Gelübde, wenn ich diesmal davon käme, 
wieder einmal eine Andacht zu halten. Das hab ich denn nun gethan, 
und Er kann wohl denken, ob unr's zu Herzen ging, als wir sangen: 
„Du Herr bist's, der mich diese Nacht durch seine Engel hat bewacht!" 
Mit diesen Worten setzte er sich auf und ritt davon. 
Ahlfeld. 
5. Ter Schneider in Pensa. 
Der Schneider in Pensa — was ist das für ein Männlein? Sechs 
und zwanzig Gesellen ans dem Brett jahraus, jahrein, für halb Rußland
	        
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