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Zeit in dessen Hause eintraf, fand er denselben jungen Mann schon
mit dem Hausherrn im Gespräch. Der Wirt wollte nun seine beiden
Freunde miteinander bekannt machen; aber der jüngere sagte: „Das
ist nicht nötig; wir kennen uns schon viele Jahre." „Ich glaube,
Sie sind im Irrtum," erwiderte Herr Müller; „ich habe allerdings
seit einiger Zeit manchen freundlichen Gruß von Ihnen bekommen,
aber sonst sind Sie mir ganz fremd." „Und doch kenne ich
Sie lange," antwortete der junge Mann, „und freue mich, Ihnen
heute herzlich danken zu können." „Wofür wollen Sie mir
danken?" fragte Herr Müller. „Das ist allerdings eine alte
Geschichte," versetzte jener; „aber wenn Sie mir einige Augenblicke
zuhören wollen, so werden Sie sich meiner doch vielleicht noch erinnern.
Eines Morgens ging ich in die Schule. Ich war damals neun
Jahre alt. Als ich über den Marktplatz kam, waren dort viele Körbe
voll der schönsten Äpfel zu sehen. Ich bekam nur selten Obst und
betrachtete daher recht lüstern die herrlichen, großen Äpfel. Die
Eigentümerin sprach mit ihrer Nachbarin und hatte deshalb ihrer
Ware den Rücken zugekehrt. Da kam mir der Gedanke, einen einzigen
Apfel heimlich zu nehmen; ich dachte, die Frau behielte ja noch eine
große Menge. Leise streckte ich meine Hand aus und wollte eben
ganz vorsichtig meine Beute in die Tasche stecken: da bekam ich eine
derbe Ohrfeige, so daß ich vor Schrecken den Apfel fallen ließ.
„Junge!" sagte zugleich der Mann, der mir die Ohrfeige gegeben
hatte, „wie heißt das siebente Gebot? Nun, ich hoffe, daß
du zum ersten Male dagegen sündigst; laß es zugleich das
letzte Mal sein!" Vor Scham wagte ich kaum die Augen
aufzuschlagen, aber doch ist mir das Antlitz jenes Mannes unverge߬
lich geblieben. In der Schule war ich immer sehr aufmerksam,
ich glaubte aber immer von neuem die Worte zu hören: Laß es das
letzte Mal sein! Und ich nahm mir fest vor: ja, es soll gewiß
das erste und letzte Mal sein! Aber auch lange nachher, wenn ich
aus dem Katechismus das siebente Gebot aufsagen sollte, dachte ich
mit heftigem Herzklopfen an jenen Morgen. — Als ich nach einigen
Jahren die Schule verließ, ward ich Lehrling bei einem Kaufmanne
in Bremen; von dort ging ich später nach Südamerika. Hier kam
ich wohl manchmal in Versuchung, in Kaufmannsgeschäften andere
zu betrügen und so die Hand nach fremdem Gute auszustrecken; aber
dann war es mir immer, als fühlte ich von neuem die Ohrfeige, und
ich erinnerte mich der Worte: Laß es zugleich das letzte Mal
sein! So bin ich ehrlich geblieben, und in dem Vermögen, welches
ich mit herübergebracht habe, ist kein Pfennig unrechten Gutes. Gott
sei dafür gelobt!"
So erzählte der junge Mann; dann aber ergriff er die Hand
des Herrn Müller und sagte: „Darf ich nun diese Hand, die mir
eine solche Wohlthat erwiesen hat, recht dankbar drücken?"
Oldenburger Volksbote.