Full text: Das Vaterland (Schulj. 5 und 6)

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Haupt. Seine Lippen bewegten sich wie zum Gebete, und dicke 
Thränentropfen fielen über sein bärtiges Angesicht. Dann reichte 
er der Mutter die Hand und ging schweigend davon. Als aber 
die Frau nach einiger Zeit von den Knieen sich erhob und durch 
das kleine Fenster hinaus sah, siehe, da stand der Franzose, das 
Gewehr im Arme, unter einem Birnbäume der Hausthüre gegen¬ 
über, als stünde er da Wache, um allen Schimpf und Schaden 
von dem Hause fern zu halten. Erst als der ganze Soldaten¬ 
trupp, der sich mit Beute reich beladen hatte, abzog, verliess er 
seinen Posten mit einem grösseren Schatze im Herzen, als seine 
Kameraden in ihren Säcken hatten. K. Heinrich. 
287. Der rechte Steuermann. 
Ein Geistlicher in einem Seestädtchen fuhr auf einem kleinen 
Schiffe vom Ufer nach der gegenüberliegenden Insel. Am Hinterteile 
des Schiffes stand der Steuermann; vorn saßen zwei Matrosen, 
Vater und Sohn, und handhabten die Ruder. „Ihr seid heute wieder 
traurig, Jack," sagte der Geistliche zu dem Vater. „Freilich," ant¬ 
wortete der Matrose, „der Winter ist vor der Thür, und wie wird's 
werden mit meinen fünf Kindern? Ich bin den ganzen Tag voller 
Sorge." — „Das sollt Ihr aber nicht sein; denn der Heiland sagt: 
Sorget nicht!" — „Den Spruch versteh' ich nimmer und nimmer; 
also soll ich mich jetzt auf die faule Haut legen, von meinen paar 
ersparten Groschen mir einige gute Tage machen und es darauf an¬ 
kommen lassen, ob der liebe Gott etwas beschert für Weib und Kind, 
oder ob sie hungern und frieren müssen?" 
„Das nicht, aber — holla, Jack! was ist denn das?" rief Plötze 
lich der Geistliche; „wir fahren eben durch die Klippen, und Ihr schaut 
Euch nicht einmal um darnach? Thut Eure Schuldigkeit!" — „Ei," 
sagte der Matrose gleichgültig, „das ist Sache des Steuermannes." 
— „Thut Eure Schuldigkeit, Jack! sage ich noch einmal, und dämmert 
nicht so vor Euch hin; seht Ihr denn die Klippen nicht? Wir gehen 
zu Grunde, wenn Jhr's so leichtsinnig mit Eurer Arbeit nehmt." — 
„Schuldigkeit thun — leichtsinnig nehmen?" erwiderte der Matrose, 
„Herr, wie kommt Ihr mir vor? Arbeite ich nicht aus Leibeskräften? 
Soll ich vielleicht steuern helfen?" — „Freilich, freilich," sagte der 
Geistliche, „damit es glücklich vorwärts geht." — „Ach, das wäre 
ja eine unnütze Geschichte, Herr. Jeder thut eben das Seine; dann 
wird schon alles recht werden. Der Steuermann steuert, und ich 
führe das Ruder. So ist's Schiffsbrauch!" 
„Nun, nehmt's nur nicht übel, Jack!" erwiderte lächelnd der 
Geistliche; „im Reiche Gottes ist's eben auch so Brauch. Das Ar¬ 
beiten ist Eure Sache; das thut aus Leibeskräften und seht dabei 
nicht rechts und links! Die Sorge aber, daß Ihr bei Eurer 
Arbeit zu Grunde gehen und nicht vorwärts kommen möchtet, die 
Das Vaterland. 26
	        
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