Full text: Vaterland und Weite Welt (C. Oberstufe)

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Gewöhnlich wird der Wasserspiegel durch die Ebbe um 4 m, zuweilen auch 
um 6 m erniedrigt. 
Endlich entsteht ein Stillstand in den Strömen. Es scheint, als 
wären alle während der Ebbe so rasch eilenden Flüsse in ruhige Seen ver¬ 
wandelt. Allmählich aber kommt wieder Leben und Regsamkeit in die 
versiegenden Gewässer. Das Meer drängt erst leise rückwärts. Die süßen 
Gewässer, welche aus dem Innern des Landes her sich einen Ansgang 
erringen wollen, geraten mit ihm in Streit, aus welchem an vielen Punkten 
mächtige Wirbel entstehen. Endlich siegt der Oceanos. Seine Schulter 
hebt sich gewaltig, und er zieht siegreich zu allen Thoren des Landes ein. 
Alle großen und kleinen Kanäle des Landes füllen sich mit flüssigem Stoffe, 
und viele schwellen an bis an den Rand. Die weiten, kahlen Sandbänke 
schmiegen sich wieder unter die feuchte Decke des Oceans, zu dessen Gebiete 
sie gehören, wie Unterthanen sich den Armen ihres Herrschers fügen. Die 
Fischer, Austern- und Krabbensucher, die Strandspaziergänger ergreifen die 
Flucht und verbergen sich hinter ihren Dämmen und Deichen. Die Vor¬ 
lande der Inseln verschwinden wieder, und diese selbst schmelzen auf die 
Hälfte ihres Territoriums zusammen. Kleine Landesteile, die noch eben 
mit dem Festlande zusammenhingen, lösen sich und werden zu Inseln. Die 
Hasendämme der Städte, vorher riesengroß, schrumpfen fast zu nichts zu¬ 
sammen. Alle Gräben, Kanäle, alle Meeres- und Flußarme füllen sich bis 
an den Rand der Deiche. Das Schiff, auf dem wir etwa fahren, hebt sich 
mächtig in die Höhe, und wir schauen hinweg über die Dämme ins Innere 
des tiefen und niedrigen Landes. Seichte Gräben werden selbst für große 
Schiffe fahrbar. Alle Schiffe, welche die Ebbe auf den Sand setzte, und 
die, schief auf die Seite geneigt, traurig dalagen, richten sich gemach wieder 
empor und erheben sich allmählich, wie arme Kranke, die man der frischen 
Luft zurückgab. Endlich lösen sie sich völlig aus dem klebrigen Boden und 
schweben beweglich und schwankend empor auf dem klaren Elemente, wie 
flüchtende Enten, die vom unbequemen Festlande auf den glatten Teich 
sich gerettet. Nun wird in allen Häfen und an allen Ufern gerüstet. 
Schiffe aller Größen und Arten spannen die Segel auf, lösen sich vom 
Strande und tragen ihre Reisenden und ihre Waren von Ufer zu Ufer. 
Auch die großen Seefahrer, die vor den Mündungen der Ströme den 
Augenblick der Fluthöhe erwarten, ziehen landeinwärts und schwimmen mit 
gebauschten Segeln und vollem Wasser in die sicheren Thore des Fest¬ 
landes ein. 
Die Ebbe gewährt noch ein anziehenderes Bild als die Flut. Da 
liegt das arme Schiff gestrandet am Ufer und erweckt unser Mitleid. Da 
kriecht das Bettelvolk der Küstenstädte, die zerlumpten Kinder und die armen 
Muschelsammler und Krabbenfänger, hervor und schleicht an den Bollwerken 
der Häfen herum, an denen seine Ernte gereift ist, nämlich die Muschel, die 
das Meer hier säte uud pflauzte. Mit der Flut ist nur der Reiche und 
Glückliche im Bunde, der seine stolzen Schiffe auf ebener Bahn entsendet 
Die Ebbe enthüllt aber auch eine Menge Geheimnisse der Tiefe, welche du 
Flut mit Wasser überzieht. Da kommen die hübschen Muscheln und du
	        
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