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zu befriedigen; die den Schmerz und die Freude kennen und die Freude
suchen wie du, o Mensch, und dir verwandt sind.
Wolltest du verachten der eines? Du kannst hundert töten mit
einem Fusstritte, aber auch ein einziges bilden? Nein, musst du be¬
kennen, dazu gehört eine Gotteshand, Gottes Allmachtshand. Wie stark
auch dein Arm, wie behende deine Finger und Werkzeuge, wie kunstreich
dein Verstand ist, du kannst doch kein einziges schaffen, von welchen Gott
so viele tausend mal tausend geschaffen hat, dermassen, dass du nicht
zählen kannst, wie weit du mit deinen Augen nur reichst, wie viel auf
einem einzigen Baume nur lebt; denn es ist allenthalben von allerlei
Art, woget und treibt, wimmelt und summt in lauter Lebensfülle zur
Sommerzeit. Klaus Harms.
130. Ter Herbst, ein reicher Zahlmeister.
Der Herbst ist der Zahlmeister des Jahres. Der Sommer hat
wohl schon manche Bezahlung auf Abschlag gemacht; aber der Herbst
führt doch die Hauptkasse. Auch hat er nicht bloß einen Zahltag,
sondern gar viele, also daß die Menschen beinahe nicht Hände genug
zum Einnehmen haben. Hat man den Herbst nur erblickt, so hat er
etwas zu verschenken, und er schenkt nicht wie ein Geiziger, daß man
nicht weiß, ob es ihm Ernst sei oder nicht, sondern er hat seine Hände
immer offen, so lange er nur etwas zu verschenken hat. Darum findet
der Herbst überall fröhliche Gesichter. Wie schön putzt er aber auch
seine Gaben aus! Betrachtet nur die rotbäckigen Äpfel an den Bäumen,
große und kleine und von allen Mustern; und dann die Birnen, von
denen manche aussehen, als ob sie von Wachs gemacht seien! Aber diese
sind nicht immer die besten, und es heißt auch bei ihnen oft: „Der
Schein trügt." Manche haben eine rauhe Schale, sind aber inwendig
doch voll Saft und Wohlgeschmack, ähnlich den braven Menschen
in groben Kitteln. Die Pflaumenbäume hängen oft so voll, daß die
Äste die Last kaum tragen können und ordentlich froh sind, wenn die
Menschen nur zugreifen. Die Nnßbäume warten oft gar nicht darauf;
sie haben monatelang in der Stille geschasst, öffnen jetzt ihre grünen,
bitteren Schalen und lassen die süßen Kerne zur Erde fallen. Die Hasel¬
nußsträucherhaben ebenfalls ihre Nüsse in Bereitschaft und lassen sie
aus gar zierlichen, grünen Bechern oben heraussehen, damit die Menschen
gleich wissen, was in ihnen steckt. Da kommen dann die Knaben und
Mädchen und langen zu und knacken, ohne daß es ihnen die Sträucher
wehren. Aber alle Nüsse bekommen sie doch nicht; denn das Eichhörn¬
chen hat sich auch seinen Teil geholt, um für den kalten Winter Vor¬
rat zu naben. Im Herbste rupft man auch den nützlichen Flachs,
der fast nicht genug zu loben und zu preisen ist, so gering er auch aus¬
sieht. Van der Seide macht man ein gewaltiges Rühmen, aber der
Flachs ist doch der Meister, denn ein seidenes Kleid kann man gar
leicht entbehren, aber nicht ein Hemd.