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2. Von Vaterland und Freiheit.
Wo dir Gottes Sonne zuerst schien, wo dir die Sterne des Himmels
zuerst leuchteten, wo seine Blitze dir zuerst seine Allmacht offenbarten und
seine Sturmwinde dir mit heiligem Schrecken durch die Seele brauseten: da
ist deine Liebe, da ist dein Vaterland.
Wo das erste Menschenauge sich liebend über deine Wiege neigte, wo
deine Mutter dich zuerst mit Freuden auf dem Schoße trug und dein Vater
dir die Lehren der Weisheit und des Christentums ins Herz grub: da ist
deine Liebe, da ist dein Vaterland.
Und seien es kahle Felsen und Inseln, und wohne Armut und Mühe
dort mit dir, du mußt das Land ewig lieb haben; denn du bist ein Mensch
und sollst es nicht vergessen, sondern behalten in deinem Herzen.
Auch ist die Freiheit kein leerer Traum und kein wüster Wahn, sondern
in ihr lebt dein Mut und dein Stolz und die Gewißheit, daß du vom
Himmel stammst.
Da ist Freiheit, wo du in Sitten und Weisen und Gesetzen deiner
Väter leben darfst, wo dich beglücket, was schon deine Urälterväter beglückte,
wo keine fremden Unterdrücker über dich gebieten und keine fremden Treiber
dich treiben, wie man Vieh mit den Stöcken treibt.
Dieses Vaterland und diese Freiheit sind ein Schatz, der eine unent¬
behrliche Liebe und Treue in sich verschließt, das edelste Gut, was, außer
der Religion, in der noch eine höhere Freiheit ist, ein guter Mensch auf
Erden besitzt und zu besitzen begehrt.
E. M. Arndt.
3. Ein deutscher Mann.
Auf hoher See segelt ein Schiff. Ruhig durchschneidet es die
Wogen. Es ist Nacht. Tausend und abertausend Sterne flimmern
am dunkelblauen Himmel. Die Luft ist mild und labend. Die Furche,
die das Schiff zieht, scheint lauter Gold zu sein.
Auf dem einsamen Schiffe steht ein einsamer Mann. Mit
kräftiger Hand führt er das Steuer; aber er sieht nicht die Wogen,
die Sterne und das Leuchten des Meeres. Seine Seele ist nach dem
fernen Lande geeilt, von dem er aussegelte. Auch dort ist jetzt Nacht,
aber sie ist lang, rauh und dunkel. Über die Wiesen und Weiden
wallen die Nebel. Auf den Baumkronen der Wälder liegt Schnee.
Finstere Nacht bedeckt Berge und Thäler. Allein die Seele des Steuer¬
mannes bedarf nicht des Sternenlichtes, um ihren Weg zu finden.
Im Geiste weilt er dort, wo man seine wonnesame, traute
Muttersprache spricht, in dem Lande seiner Geburt, in seinem
Vaterlande, im Deutschen Reiche, in seiner Heimat, in seiner
Vaterstadt. Und jenes Haus dort, woher ein schwaches Licht ihm
entgegenschimmert, ist sein Vaterhaus, sein Heim. Dort wohnen
seine Eltern, dort wohnt auch sein geliebtes Weib, das er unter