Full text: [Teil 2. Mittelstufe] (Teil 2. Mittelstufe)

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219. Züge aus dem Leben Kaiser Wilhelms I. 
ihr Linderung suchten. Die Königin erkannte ihre Bedürfnisse, aber 
sie vermochte nicht, ihnen zu helfen. Um sie zu zerstreuen, erhob 
sie sich von ihrem Platze und begann, im Felde Kornblumen zu suchen. 
Die Knaben, durch das Beispiel der Mutter ermuntert, taten ein 
Gleiches und brachten ihr bald Blumen in Hülle und Fülle. Die 
Königin aber flocht, auf dem Rasen sitzend, die Blumen zum Kranze. 
Während dieser Beschäftigung mochten ihr wohl trübe Gedanken über 
die Lage des Vaterlandes und das künftige Schicksal ihrer Söhne durch 
die Seele ziehen; denn ihre Augen umflorten sich und ließen eine 
Träne wie eine Tauperle auf die Blumen in ihrer Hand fallen. Der 
kleine Prinz Wilhelm sah diese Träne und ahnte wohl ihre Bedeutung; 
denn er schmiegte sich noch einmal mit ganzer Zärtlichkeit an die 
Mutter, als wollte er sie trösten. Diese aber nahm den vollen Kranz, 
drückte ihn auf das blonde Haupt, des Knaben und blickte ihn mit 
dem treuen Mutterauge an, durch Tränen lächelnd. 
Man sagt, die Erinnerung an diese liebliche Begebenheit in der 
Kinderzeit sei dem Sohne der Königin Luise durch sein ganzes 
späteres Leben treu geblieben. Nach Fedor v. Koppen. 
2. Kaiser Wilhelm unter seinen Soldaten. 
a) Im Lazarett. 
T^ines Tages durchschritt der edle, deutsche Kaiser Wilhelm die 
^ Lazarettsäle zu Versailles, wie er häufig zu tun pflegte. Überall 
tröstete er, und oft war es schon der bloße Anblick seines lieben, 
freundlichen Gesichts, welcher die armen Verwundeten auf Augen¬ 
blicke ihre Schmerzen vergessen ließ. — So trat er diesmal auch zu 
der Lagerstätte eines jungen, verwundeten Infanteristen. Der war in¬ 
folge eines Schlafpulvers eingeschlummert und hatte sein Album von 
Gedichten auf dem Bette offen liegen lassen. Um den armen Ver¬ 
wundeten nicht zu stören, trat der Kaiser leise hinzu, nahm den 
neben dem Album liegenden Bleistift und schrieb die wenigen Worte 
hinein: 
„Mein Sohn, gedenke deines treuen Königs! 
Wilhelm.“ 
Der Soldat erwachte, und reiche Tränen perlten ihm beim An¬ 
blicke dieser Zeilen aus den Augen. 
Wenige Tage darauf besuchte der Kaiser wiederum das Lazarett 
und trat sofort auf unseren Infanteristen zu, drückte ihm freundlich
	        
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