370 182. Der betende Handwerlsgeselle
Gottesfurcht; in der Kirche war er so oft zu sehen als andere im Wirtshaus
Bei seinem Meister wurde es ihm auch wohl, da Gottesfurcht und Ordnung
im Hause herrschte. Mit Gebet wurde der Tag angefangen und beschlossen,
auch jede Mahlzeit; abends wurde in der Bibel, auch in Luthers Postille
Predigtbuch) gelesen und nicht nur am Sonntag sondern auch während der
Woche die Kirche besucht. Da nun der Meister seine Treue, o—
und Rechtschaffenheit hinlänglich erprobt hatte, so gab er ihm seine Tochter
zur Frau und trat ihm Haus und Gewerbe ab. Dies machte aber den jungen
Meister nicht übermütig, sondern er blieb in der Demut, im Gebet, in Gottes
Wort. Und darnach richtete er auch seinen Wandel ein, so daß er bei jeder—
mann Achtung und Vertrauen sich erwarb und am Ende selbst in den Rat
der Stadt erwählt wurde. Zugleich segnete ihn Gott, daß er einer der begü—
tertsten Bürger wurde. Dieses Glück betrachtete er aber nicht als Lohn seiner
Arbest sondern als gnädigen Segen Gottes den er oft rühmte. Wenn er
abends unter den Seinigen von des Tages Arbeit ruhte, so konnte er manch—
mal erzählen, wie er arm und fast nackt in die Stadt gekommen sei und vor
dem Thore gebetet habe. „Sehet,“ sagte er dann, „Gott hat ja mein Gebet
überschwenglich erhört und mich fein gesegnet. Ich habe nun viele Jahre in
dieser Stadk ausgeruht, Gott hat mir gute Zehrung gegeben, dazu Geld in
den Kasten, gute Kleider, gute Wohnung und dazu fromm Gemahl und gesunde
Kinder, auch treu Gesinde. Für solche überschwengliche Wohlthaten kann ich
ihm nicht genug danken.“
Psalm 50, 15: Rufe mich an in der Not, so will ich dich erretten; so
sollst du mich preisen.
183. Das Hallesche Waisenhaus. 1700.
1. Vor einem der Thore in Halle, einer Stadt in Preuben, an der
Saale gelegen, steht ein hohes Gebäude, das über seinem Eingang Jes.
40, 31 als Inschrift trügt: „Die auf den Herrn barren, kriegen neue
Krast, daß sie auffahren mit Flügeln wie Adler, dak sie laufen und nicht
matt werden, daß sie vandeln und nieht müde werden.“ Dieser Eingang
führt dureh das Vordergebäude in einen sehr langen Hof, in eine wahre
Straße, auf deren beiden Seiten hohe Häuser stehen. Hier erblickt man
ein Waisenhaus für arme RKinder, eine Erziehungsanstalt für Kinder aus
höheren Ständen, eine Bucehdruckerei besonders zum Druek von Bibeln,
eine große Buchbandlung, viele Nebengebäude, Gürten u, dergl.
2. Alles dieses ist erwachsen aus der gesegneten Glaubensarbeit des
armen Predigers und Professors August Hermann Francke, geboren in
Lubeck im Jahr 1663. Dieses Waisenhaus mit allen damit zusammen-
hüngenden Gebäuden und Anstalten hatte vie alles Grobe einen gar kleinen
Anfang. Es ging damit folgendermaben zu. An jedem Donnerstag kamen