fullscreen: Deutsches Lesebuch für ein- und zweiklassige Schulen

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2. Als der Tod die beiden mühseligen Leute — meinen Vater 
und meine Mutter — im Häuschen am Kirchplatz abgeholt hatte, 
haben sie uns vier Geschwister von Gemeinde wegen verteilt. Ich 
hab' damals noch nicht recht empfunden, was es heißt, Eltern und 
Heimat und alles zu verlieren, und meine drei Brüderchen, die waren 
ja noch jünger und sorgloser als ich. 
Mich haben sie dem reichen Haselbachbauer gegeben. Der hat 
sich groß gemacht, was er für ein gutes Werk tue, daß er ein so 
armes Waisenkind aufnehme und kleide und erziehe; aber in Wirk¬ 
lichkeit hat er mich doch nur genommen, weil er gewußt hat, daß 
ich von meiner seligen Mutier allezeit recht zum Schaffen angehalten 
worden war, daß ich also schon etwas leisten konnte. 
Ich hab' bei den Haselbachbauersleuten nicht viel Gutes erlebt. 
Wenn ich mich bei der Arbeit auch noch so sehr abgemüht hab' — 
es war nie genug. Der Bauer, die Bäuerin, die Knechte, die Mägde 
und die zwei mit mir fast gleichaltrigen Kinder des Hauses, sie 
alle haben an mir herumgejagt und — Gott verzeih's ihnen — 
herumgeprügelt, daß ich bald überhaupt nimmer gewußt hab', was 
ich tun sollte. Die haben gemeint, das Quälen eines armen, hilf¬ 
losen Waisenkindes gehöre zu den guten Werken. 
Wenn ich Schuhe oder sonst ein Kleidungsstück brauchte, haben sie 
mir allemal gepredigt, daß ich die größte „Zerrlos" von der Welt 
sei. und daß es schade sei für alles, was man mir gebe. 
In jener Zeit hab' ich oft bitterlich geweint, die halben Nächte 
durch. Wenn ich am Sonntag nachmittag eine Freistunde be¬ 
kommen hab', bin ich auf den Kirchhof gelaufen und hab' meiner 
toten Mutter und meinem toten Vater mein Elend geklagt. 
3. Dort aus dem Friedhof hat mich die Neumüllerin, die um 
jene Zeit ihr ältestes Kind, ein vierzehnjähriges Mädchen, hat be¬ 
graben müssen, eines Tags angeredet. Sie hat mich gefragt, bei 
wem ich sei, und wie es mir gehe, seit ich die Eltern verloren. Ich 
hab' bei Lebzeiten des Vaters und der Mutter oft Besen und Körbe 
in die Neumühle getragen und hab' die großen Stücke Brot, die ich 
von der Müllerin bekommen, noch wohl in der Erinnerung gehabt. 
Und die Frau hat da auf dem Kirchhof so freundlich zu mir ge¬ 
sprochen. Ja, ich hatte lange, lange kein freundlich Wort mehr 
gehört. Ich hab' weinen müssen, bitterlich weinen. Da hat mich 
dann die Müllerin getröstet, und dann hab' ich wieder reden können 
und hab' ihr erzählt, wie es mir ergangen, seit ich in das Haselbach¬ 
bauernhaus gekommen. 
Die gute, gute Frau, der ich später so lange Jahre als treues 
Dienstbot angehangen habe, wie ein Kind nur der Mutter anhängen
	        
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