Full text: 6. Schuljahr (4, [Theil] 2)

79 
mehr mit fröhlich den Städten entfliehenden Reisenden; Kranke und Ange¬ 
griffene eilten hoffnungsvoll in die Bäder, in die Berge, an die See. 
Auch das alte Bad Ems hatte sich neu belebt durch zahlreichen Zuzug 
aus allen Teilen der Erde. In dein waldigen, bergumschlossenen Thale, 
wo die Lahn ihre klare Flut rheinwärts rollt, nmschwirrten die verschieden¬ 
sten Sprachen die warmsprudelnden Heilquellen, und vornehme Herren und 
Damen ergingen sich in den daran grenzenden Anlagen. 
Seit einigen Wochen ragte eine hohe und mächtige Gestalt um Hauptes¬ 
länge hervor: ein Greis mit silberweißem Haar und Bart, aber jugend¬ 
frisch noch in seinem Schritte und in seiner ganzen Erscheinung. Meist in 
einfacher, schwarzer Kleidung erscheinend, verriet doch seine feste, stramme 
Haltung auf den ersten Blick den Soldaten; ein schärferes Auge entdeckte 
unter deni einfachen und leutseligen Wesen des alten Herrn den hochge¬ 
borenen Fürsten. 
Es ist ein König, der alljährlich nach dem anstrengenden, arbeitsvollen 
Winter in Ems einige Wochen sich Erholung gönnt, obgleich er auch hier 
noch täglich stundenlang mit seinen Räten arbeitet. In dem warmen 
Sprudel, welcher hier heilkräftig der Thalsole entquillt, will er sich erfrischen 
und stärken zu neuer Arbeit. Die Bewohner des Städtchens, wie seine 
regelmäßigen Besucher, freuen sich jedesmal über seine Ankunft; jedermann 
hat ihn lieb wie einen alten Freund. 
Vor allem ist er gern gesehen bei der Kinderwelt zu Ems. Wie denken 
sich doch die Kleinen einen König so ganz anders, ehe sie einen echten und 
wirklichen gesehen! Dieser trägt keine goldene Krone und keinen Purpur- 
mantel, ja nicht einmal Scepter und Reichsapfel, wie fie's in den Bilder¬ 
büchern gesehen; er hat meist nur ein Stöckchen in der einen, eine Cigarre 
in der andern Hand, gerade wie der Papa, und er trägt gewöhnlich einen 
Hut und einen schwarzen Rock mit weißer Weste, gerade wie der Onkel; doch 
wenn er auch im Militärrocke und mit der Soldatenmütze spazieren geht, 
sieht er so freundlich und zutrauenerweckend aus, daß sich keines vor ihm 
fürchtet. Und wenn eins ihm die Hand giebt, trotz Mamas Verbot, so schilt 
er nicht, sondern lächelt und schüttelt das Händchen ganz herzlich. 
So saßt sich denn einmal ein Einser Bub ein Herz, läuft plötzlich ans 
den alten Herrn zu, umspannt seine Kniee und ruft: „Bist du wirklich der 
König Wilhelm?" — „Ja, ich denke, kleiner Mann", lautet die Antwort; 
„und wie heißt denn du, und was willst du werden?" — „Ich heiße auch 
Wilhelm, und Soldat will ich werden", ruft der Kleine freudestrahlend, 
„aber weißt du, König Wilhelm, einer von denen mit den roten Aufschlägen 
und den weißen Federbüschen, damit ich auch meine Uniform brauchen 
kann." „Gott segne dich, mein Junge", erwidert der König, „und wenn 
du einmal groß wirst, dann sag' meinem Sohne Fritz, du wolltest unter die 
Soldaten mit den roten Aufschlägen und weißen Federbüschen, der alte König 
Wilhelm habe dir's erlaubt." Hub glücklich springt der Bursch davon, 
um Mama ganz brühwarm die denkwürdige Begegnung zu berichten. 
Die kleinen Mädchen von Ems haben natürlich nicht solche kriegerische 
Wünsche und begegnen in ihrer angeborenen Schüchternheit ihm weniger
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.