Full text: Vaterländisches Lesebuch für die mehrklassige evangelische Volksschule Norddeutschlands

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40. Der Glockenguß zu Breslau. 
1. War einst ein Glockengießer 
zu Breslau iu der Stadt, 
ein ehrenwertster Meister, 
gewandt in Rath und That. 
2. Er hatte schon gegossen 
dick Glocken, gelb und weiß, 
für Kirchen und Kapellen, 
zu Gottes Lob und Preis. 
3. Und seine Glocken klangen 
so voll, so hell, so rein: 
er goß auch Lieb' und Glauben 
mit in die Form hinein. 
4. Doch aller Glocken Krone, 
die er gegossen hat, 
das ist die Sünderglocke 
zu Breslau iu der Stadt. 
5. Im Magdalenenthurme, 
da hängt daö Meisterstück, 
rief schon manch starres Herze 
zu seinem Gott zurück. 
6. Wie hat der gute Meister 
so treu das Werk bedacht! 
Wie hat er seine Hände 
gerührt bei Tag und Nacht! 
7. Und als die Stunde kommen, 
daß alles fertig war — 
die Form ist eingemauert, 
die Speise gut und gar —: 
8. da ruft er seinen Buben 
zur Feuerwacht herein: 
„Ich lass' auf kurze Weile 
beim Kessel dich allein, 
9. will mich mit einem Trünke 
noch stärken zu dem Guß, 
das giebt der zähen Speise 
erst einen vollen Fluß; 
10. doch hüte dich und rühre 
den Hahn mir nimmer an! 
sonst wär' es um dein Leben, 
Fürwitziger, gethan!" — 
11. Der Bube steht am Kessel, 
schaut in die Glut hinein: 
das wogt und wallt und wirbelt 
und will entfesselt sein, 
12. und zischt ihm in die Ohren 
und zuckt ihm durch den Sinn 
und zieht an allen Fingern 
ihn nach dem Hahne hin. 
13. Er fühlt ihn in den Händen, 
er hat ihn umgedreht; 
da wird ihm angst und bange, 
er weiß nicht, was er thät, 
14. und läuft hinaus zum Meister, 
die Schuld ihm zu gestehn, 
will seine Knie umfassen 
und ihn um Gnade flehn. 
15. Doch wie der nur vernommen 
des Knaben erstes Wort, 
da reißt die kluge Rechte 
der jähe Zorn ihm fort. 
16. Er stößt sein scharfes Messer 
dem Buben in die Brust; 
dann stürzt er nach dem Kessel, 
sein selber nicht bewußt. 
17. Vielleicht, daß er noch retten, 
den Strom noch hemmen kann: 
doch sieh, der Guß ist fertig, 
es fehlt kein Tropfen dran. 
18. Da eilt er abzuräumen 
und sieht, und will's nicht sehn, 
ganz ohne Fleck und Makel 
die Glocke vor sich stehn. 
19. Der Knabe liegt am Boden, 
er schaut sein Werk nicht mehr. 
Ach, Meister, wilder Meister, 
du stießest gar zu sehr! 
20. Er stellt sich dem Gerichte, 
er klagt sich selber an. 
Es thut den Richtern wehe 
wohl um den wackern Mann. 
21. Doch kann ihn keiner retten, 
und Blut will wieder Blut; 
er hört sein TodeSnrtheil 
mit ungebeugtem Muth. 
22. Und als der Tag gekommen, 
daß man ihn führt hinaus, 
da wird ihm angeboten 
der letzte Gnadenschmaus. 
28. „Ich dank' euch," spricht der Meister, 
„ihr Herren lieb und werth; 
doch eine andre Gnade 
mein Herz von euch begehrt: 
24. laßt mich nur einmal hören 
der neuen Glocke Klang! 
Ich hab' sie ja bereitet; 
möcht' wissen, ob's gelang." 
25. Die Bitte ward gewähret, 
sie schien den Herrn gering; 
die Glocke ward geläutet, 
als er zum Tode ging. 
26. Der Meister hört sie klingen 
so voll, so hell, so rein; 
die Augen gehn ihin über, 
es muß vor Freude sein.
	        
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