Full text: Lesebuch für ein- und zweiklassige Volksschulen

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mit entsetzlichem Tosen und Krachen über die langen Salden herab, 
wurden immer größer und größer, schossen immer schneller, tosten 
und krachten immer fürchterlicher und jagten die Lust vor sich her 
so durcheinander, daß im Stunn, noch ehe die Lawine ankam, ganze 
lVälder zusammenkrachten und Ställe, Scheuern und Waldungen wie 
Spreu davonflogen. Und wo die Lawinen sich in den Thälern 
niederstürzten, da wurden stundenlange Strecken mit allen Wohn¬ 
gebäuden, die darauf standen, und mit allem Lebendigen, was darin 
atmete, erdrückt und zerschmettert, wer nicht wie durch ein göttliches 
Wunder gerettet wurde. 
Tiner von zwei Brüdern in Uri, die miteinander hausten, war 
auf dem Dach, das hinten an den Berg stößt, und dachte: „Ich 
will den Zwischenraum zwischen dem Berg und dem Dächlein mit 
Schnee ausfüllen und alles eben machen, auf daß, wenn die Lawine 
kommt, sie über das Häuslein wegfährt, und wir vielleicht," - 
und als er sagen wollte: „und wir vielleicht mit dem Leben davon¬ 
kommen", — da führte ihn der plötzliche Windbraus, der vor der 
Lawine hergeht, vom Dach hinweg und hob ihn schwebend in die 
Luft wie einen Vogel über einem entsetzlichen Abgrund. Und als 
er eben in Gefahr war, in die unermeßliche Tiefe hinabzustürzen, 
da streifte die Lawine an ihm vorbei und warf ihn seitwärts an 
eine Halde. In der Betäubung umklammerte er noch einen Baum, 
an dem er sich festhielt, bis alles vorüber war, und kam glücklich 
davon und ging wieder heim zu feinern Bruder, der auch noch lebte, 
obgleich der Stall neben dem Häuslein wie mit einem Besen weg¬ 
gefegt war. Da konnte inan wohl sagen: „Der Herr hat seinen 
Tngeln befohlen über dir, daß sie dich auf den fänden tragen. 
Denn er macht Sturmwinde zu seinen Boten und die Lawinen, daß 
sie seine Befehle ausrichten." 
Anders erging es in Sturnen, ebenfalls im Kanton Uri. Nach 
dem Abendsegen sagte der Vater zu der Frau und den drei Kindern: 
„Wir wollen doch auch noch ein Gebet verrichten für die armen 
Leute, die in dieser Nacht in Gefahr sind." Und während sie 
beteten, donnerte schon aus allen Thälern der ferne Widerhall der 
Lawinen, und während sie noch beteten, stürzten plötzlich der Stall 
und das Haus zusammen. Der Vater wurde vom Sturmwind hin¬ 
weggeführt, hinaus in die fürchterliche Nacht und unten am Berge 
abgesetzt und von dem nachwehenden Schnee begraben. Noch lebte 
er. Als er aber den andern Morgen mit unmenschlicher Anstrengung
	        
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