352
vor Hettels Burg. Gudrun stand am Fenster und schaute dem
grimmen Kampfe zu. Als sie die tapfern Thaten des Heldenjüng¬
lings sah, zog die Liebe in ihr Herz ein; sie bewog ihren Vater,
dem Kampfe Einhalt zu thun und Herwig in die Burg kommen zu
lassen. Der wackere Jüngling gewann durch seinen edlen Anstand
vollends Gudruns Herz, und die Eltern willigten in die Verlobung,
die am nächsten Tage fröhlich gefeiert wurde.
II.
Gudruns Entführung.
Das Glück der Verlobten war aber nur von kurzer Dauer.
Der abgewiesene Siegfried von Moorland war zornig in Herwigs
Land eingefallen und wütete darin mit Mord und Brand. Herwig
musste heimeilen, sein Land zu schützen. Auch Hettel zog mit
seinen Mannen dem Eidam zu Hilfe. Während so das Hegelingen¬
land von Verteidigern entblöfst war, kam der listige König Ludwig
von der Normandie mit einem starken Heere, um die schöne
Gudrun für seinen Sohn Hartmut zu gewinnen. Da Gudrun nicht
freiwillig folgen wollte, führte er sie samt 62 Jungfrauen gefangen
hinweg.
Die Königin Hilde sandte sofort Boten mit der Unglücksmär
an Hettel und Herwig. Beide schlossen sogleich mit Siegfried Frieden
und Freundschaft; dann brachen sie vereint zur Verfolgung der Räuber
auf und erreichten sie auf dem Wülpensande, einer Insel an der
Scheldemündung. Es kam zu einer furchtbaren Schlacht, die bis
in die sinkende Nacht dauerte. Das Wasser rötete sich von dem
Blut der Erschlagenen. Hettel fiel durch Ludwigs Hand. Aber
obgleich die Hegelingen durch den Tod ihres geliebten Königs
zur grössten Tapferkeit entflammt wurden, konnten sie doch die
geraubten Jungfrauen nicht befreien. Im Dunkel der Nacht bestiegen
die Normannen ihre Schiffe und entwichen mit ihrer Beute. Traurig
mussten die Hegelingen umkehren und die Rache auf spätere Zeiten
verschieben, weil die meisten Helden in dem blutigen Kampfe ge¬
fallen waren.
Mit günstigem Winde segelten inzwischen die Normannen ihrer
Heimat zu. Als die Burgen des Normannenlandes am Seegestade
auftauchten, trat König Ludwig zu der trauernden Gudrun, zeigte
ihr die Herrlichkeit seiner Länder und bot ihr die Königskrone an,
wenn sie sich mit seinem Sohne Hartmut vermählen wolle. Aber