Gustav F. Steffen: Deutschlands imperialistische Entwicklung. 69
Mit unbeweglicher Konsequenz hat die geschichtliche
Entwicklung jene eigentümlichen Übelstände hinsichtlich der
Grenzverhältnisse auf das jetzige Deutsche Reich übertragen.
Nichts als eitel „unnatürliche" Landgrenze sowohl im
Westen wie im Osten! Und die Reichsgrenze nach Osten
hin ist geradezu unabänderlich „unnatürlich". Die Land¬
gebiete der Deutschen und der Slawen sind dort so zerstückelt,
durcheinander gewürfelt und ineinander geschoben - wo
beide Völker nicht geradezu auf demselben Gebiete durch¬
einander wohnen daß es offensichtlich eine teilweise
unlösbare Aufgabe ist, dort festzustellen, wo, im Namen
des Nationalitätsprinzipes, die Reichsgrenze zwischen
dem Deutschen Reiche und einem slawischen Nachbarstaats
liegen muß.
In Österreich-Ungarn liegen ja die entsprechenden Ver¬
hältnisse vielerorten auch nicht besser. Und die bloße Tat¬
sache, daß Österreichs deutsche Bevölkerung nicht dem neuen
Deutschen Reiche, sondern einem anderen, nur teilweise
deutschen Staate angehört, ist ja unter deutschnationalem
imperialistischen Gesichtspunkte eine Reichsgrenzenfrage
bedeutungsvollster Art.
Wenn irgendein Staat eine Irredenta hat, so ist es das
Deutsche Reich.
Ich übergehe hier als allgemein bekannt die verhäng¬
nisvollen auslands- und innerpolitischen Wirkungen dieser
unglücklichen geographischen Lage der deutschen Stämme
auf das mittelalterliche deutsche Imperium und auf seine
Fortsetzung in neuerer Zeit. Wir gewahren ein Imperium,
das schließlich nur noch dem Namen nach, zu niemandes
Frommen, ein Imperium war, dessen oberster monarchischer
Macht es nie gelang, ihre universale geschichtliche Aufgabe
einer Überwindung der inneren politischen Zersplitterung
und Schwäche des Feudalstaates und einer Herstellung des
nationalen Einheitsstaates auf dem Fundamente einer
starken Königs- oder Kaisermacht zu erfüllen. Und wir
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