Object: Wege zum Staatsgedanken

12. Das Weltreich Napoleons I. 
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muffen; er erlebte also noch den Zusammenbruch seines großen Werkes. Warum 
ist sein Los anders gewesen als das seines Vorgängers, Karls des Großen? 
Damals entstanden erst die Völker. Sie fingen an zu fühlen, daß 
sie durch Sprache, Sitte, durch ihre Geschichte, durch ihre Lieder und durch die 
Taten ihrer Vorfahren zusammengehörten, daß sie anders waren als die andern. 
Daher wehrten sie sich noch schwach gegen die Vereinigung mit einem fremden 
Volke zu einem Staate. Zu Napoleons Zeiten war es anders. Da war jedes 
Volk schon stolz auf sich selbst. Da wußte jeder im Volke: Soviele ruhmreiche 
Taten haben unsere Väter getan. Früher hat unser Volk seinen eigenen Staat 
gehabt, kein fremder hat ihn anzutasten gewagt. And heute sollen wir uns von 
einem fremden Volke regieren lassen, als wären wir selber gar nichts mehr? 
So wuchs der Zorn in den unterdrückten Völkern, und mit diesem Zorn wuchs 
die Liebe zum eigenen Volke. Mit jeder neuen Last, die der fremde Eroberer 
ihm auflegte, mit jeder neuen Schmach, die er ihm zufügte, wurde diese Liebe 
inniger, heißer, feuriger. Es brauchte nur einen Anlaß, um den Zorn des 
Volkes auflodern zu laffen, und bald sollte er an verschiedenen Stellen des 
Napoleonischen Reiches auflodern. (Beispiele: Spanien, die deutschen Er¬ 
hebungen unter Schill und Dörnberg, Tirol und Andreas Loser, preußischer 
Schlachtenzorn im Befleiungskriege, „das Volk steht aus" usw.) 
Diese Liebe zum eigenem Volke, den Zorn über seine Anterdrückung, 
nennt man Nationalgefllhl. Zn der alten Zeit schlief das Nationalgefühl noch 
in den Völkern; heute ist es wach. Darum konnte früher ein Weltreich ver¬ 
schiedene Völker umfassen. Leute kann nur ein Nationalstaat zugleich Welt¬ 
macht sein. Wenn das heutige Deutsche Reich also Weltmacht sein will, kann 
es nicht etwa europäische Völker unterwerfen wollen, in denen schon ein starkes 
Nationalgefühl lebt. Nur die Völker lassen sich unsere Lerrschaft gefallen, 
die noch nicht wissen, daß sie ein Volk sind, die Neger in Afrika, die Wilden 
auf den Inseln der Südsee. Soll also das Deutsche Weltreich sicher stehen, 
so kann es nur auf das deutsche Volk begründet sein, und dieses Volk selber 
muß die Weltherrschaft wollen, wie wir bald noch sehen werden. (Vergl. 
folgendes Thema.) 
Sollte aber Napoleon nur um zu herrschen, nur um Kaiser 
eines großen Reiches zu sein, so viele Kriege gesührt haben? Er 
war sicherlich sehr herrschsüchtig, aber seine Kriege hatten doch noch 
einen anderen Zweck. Man kann beinahe sagen: Er hat den Krieg 
geerbt, von den französischen Königen Ludwig XIV. und XVI. ge¬ 
erbt. Schon diese hatten fortwährend im Kriege gestanden mit der 
anderen großen Weltmacht, die es zu ihrer Zeit in Europa gab, mit 
England. Wer soll L>err aus dem Meere sein? Wer soll die neuen 
Länder in Amerika und die alten in Aßen, besonders Indien be¬ 
sitzen? Wem soll der schwarze Erdteil Afrika gehören? Am diese 
Dinge war Kampf gewesen zwischen Frankreich und England. Wir 
haben nur nichts davon erzählt, weil das unser Deutschland nicht 
viel angeht. 
Nun Napoleon setzte diesen Krieg um die Seeherrschast und
	        
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