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Das Reisen sonst und jetzt. 
Erde durch. Es ist schrecklich!“ „Ja“, sagte der Kollege, „das geht 
wider alle Ordnung. Die Fuhrleute werden alle aufsässig. Die Pferde¬ 
zucht wird ruiniert. Das ist alles Dampf, nichts als Dampf“. „Meine- 
Herren“, erlaubte sich ein Postrat zu bemerken, „das'kann keinen Be¬ 
stand haben. Ich wohne in der Leipziger Straße und sehe, wie morgens 
bei schönem Wetter und hauptsächlich in der Rosenzeit höchstens sechs, 
bis acht Fuhrwerke hinaus nach Potsdam und der Pfaueninsel fahren. 
Nun aber bauen sie Wagen, wo dreißig Personen Platz haben, und sie 
wollen an sechsmal des Tags damit hinausfahren. Was sollen wir 
Berliner denn alle Tage sechsmal in Potsdam machen?“ 
Die Frage war unlösbar und noch unlösbarer die Frage, wie es 
bei solcher Reisesucht mit den Pässen werden solle. — Aber der Zeit¬ 
geist, der böse Zeitgeist hatte in Berlin die Menschheit erfaßt, und da 
war kein Halt mehr. 
Im Herbst 1838 war die Hälfte der Eisenbahn bis Zehlendorf 
fertig. Eine Probefahrt fand statt, und nicht bloß der Polizeipräsident, 
sondern auch zwei Minister ließen sich herab, der Einladung des Direk¬ 
toriums zu folgen und die Reise bis Zehlendorf mitzumachen. Auch 
die Presse wurde mit einer Einladung beehrt, damit die öffentliche 
Meinung für das große Unternehmen gewonnen werde. Sie fuhr mit 
und fällte ihr Urteil in einem ausführlichen Berichte in der Vossischen 
Zeitung, die dazumal den Geist aller guten Berliner beherrschte und 
lenkte. 
Uber die erschreckende Geschwindigkeit dieses Probezuges — er 
fuhr in kaum einer Stunde richtig bis Zehlendorf, während der heutige 
Schnellzug dazu gerade 16 Minuten gebraucht — wußte der Bericht 
die öffentliche Meinung zu beruhigen. „Im Wagen merke man die 
rasende Geschwindigkeit gar nicht!“ „Selbst den Tunnel bei Schöne¬ 
berg passierte der Zug, ohne daß die eingeladenen Damen aufgeschrieen 
hätten. Nur wenn man hinausblickt, wird man ein wenig schwindelig; 
aber die Berliner sind nicht so nervenschwach und werden sich auch 
daran mit der Zeit gewöhnen.“ 
Diese Voraussetzung bewährte sich vollkommen. Die Bahn wurde 
fertig und die nervenstarken Berliner gewöhnten sich dermaßen an die 
Geschwindigkeit, daß man mit ihnen die ganze Fahrt bis Potsdam in 
anderthalb Stunden machen konnte. 
Als am Ende gar noch die Eisenbahn die Post auf den Rücken 
nahm und mit ihr in die Welt hinein jagte, vertrauten sich selbst 
Posträte ihr an und fanden, daß die Welt nicht ihrem Untergange des¬ 
halb zueile. 
Von nun ab wühlte der böse Zeitgeist gar schrecklich in der un¬ 
ruhigen Menschheit. Man begnügte sich nicht mehr, mit all den Eisen¬ 
bahnen nach allen Seiten hin gewaltige Reisen in einem Tage abzu¬ 
machen, auf welchen man sonst Wochen zubrachte. Nein, man faßte 
den Entschluß, auch nachts die Reisenden zu befördern. 
Mitten in der Nacht? Gar durch die ganze Nacht?! Es war ein 
erschreckender Gedanke! Wer wird denn nachts reisen! Wer anders 
will denn des Nachts reisen als Diebe und Mörder? Wird es selbst der 
wachsamsten Polizei möglich sein, hierüber eine Kontrolle auszuüben?
	        
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