Lebensgang eines Zunfthandwerkers aus der „guten alten Zeit". 87 
zu beginnen und gegen seinen Lehrherrn stets Treue, Fleiß und Aufmerk¬ 
samkeit zu bewahren, aus daß er dereinst ein nützliches Glied seines Ge¬ 
werbes werde. 
Der Meister nahm den Lehrling, „blind" genannt, nicht wie einen 
Mietling, sondern als Glied der Familie in sein Haus. Zwar gab es 
mancherlei Entbehrungen zu ertragen, die Teilnahme an öffentlichen Lust¬ 
barkeiten war untersagt, der Meister forderte unbedingten Gehorsam,- aber 
aus die Erziehung des jungen Handwerkers wirkte diese strenge Zucht 
nur fördernd. 
Nach beendigter Lehrzeit trat der Lehrling wiederum vor die Zunft- 
lade und wurde, falls seine Führung während der Lehrzeit eine gute ge¬ 
wesen war, vom Lehrburschenverhältnis feierlich losgesprochen. Mit dem 
darüber ausgestellten Zeugnis, dem „Lehrbrief", versehen, begab sich nun 
der junge Handwerker als „Knecht" auf die Wanderschaft. Fröhlich und 
wohlgemut durchzog er aus Schusters Rappen die weite Welt, um neue 
Urbeitsweisen in seinem Geschäft kennen zu lernen und Welt- und Menschen¬ 
kenntnis aus eigener Anschauung zu erwerben. Mochte er nun nahe der 
Heimat Urbeit suchen oder viele Meilen entfernt sein, in jeder Stadt, 
wohin er kam und nach handwerksgebrauch das' Handwerk grüßte, fand 
er einen fest gegliederten verband von Genossen, die ihm, dem Zugereisten, 
freundlich entgegen kamen und ihm, falls Hrbeit am Orte war, solche 
verschafften. Zn der Herberge fand er nach des Tages Mühen Erholung 
und Unterhaltung im Kreise einheimischer und fremder Genossen. 
hatte nach jahrelangem Umherwandern (manche Gewerbe schrieben 
eine bestimmte Wanderzeit vor) der Geselle das verlangen, in der Heimat 
oder an einem fremdem Orte sein Handwerk selbständig zu betreiben, so 
unterwarf er sich der Meisterprüfung. Er machte sein „Meisterstück" und 
wurde, wenn dies tadellos ausfiel, in feierlicher Sitzung als Meister in 
die Zunft aufgenommen. Mit Erlangung der Meisterschaft hatte der 
Handwerker den sichern Boden für sein weiteres Fortkommen gefunden. 
Er mußte sich zwar den strengen Zunftgesetzen fügen, mutzte sich die Be¬ 
aufsichtigung seiner Urbeiten seitens der Zunft gefallen lassen,- aber er war 
auch vor unbefugtem Wettbewerb geschützt und konnte mit Uussicht aus 
Erfolg für sich und die Seinen wirken und schaffen. 
Um Übend seines Lebens konnte er ruhig die Uugen id^Iie^en; denn 
gleich wie die Zunft ihm als ihrem Ungehörigen bei seinen Lebzeiten 
ihren Schutz hatte angedeihen lassen, so betrachtete sie auch die Sorge für 
die Hinterbliebenen des verstorbenen Genossen als eine Ehrensache des 
ganzen Gewerkes. Durch die Überreichung eines Sterbegeldes, das man 
der Witwe aus der Zunftlade oder aus einer zu dem Zwecke gebildeten 
Kasse gewährte, wurde es dieser möglich, die bei einem Todesfälle unver¬ 
meidlichen Uusgaben zu bestreiten. Vas eigentliche Begräbnis des ver¬ 
ewigten Meisters übernahm die Zunft selbst. Der Witwe stand es frei, 
aus der Zahl der in der Stadt arbeitenden Gesellen den tüchtigsten und 
zuverlässigsten als Werkführer zu wählen, und es durste sich dieser der 
oberen Leitung des ihm übertragenen Geschäfts nicht entziehen. So waren 
Witwe und Kinder vor Mangel geschützt. Nach I. W-suen.
	        
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