Object: Lesebuch für die reifere weibliche Jugend

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Erweckende persönlichen Verkehrs haben Briefe oft. — Freilich 
darf anderseits nicht vergessen werden, daß auf jeden Brief nicht 
nur der Schreiber, sondern ganz besonders auch die Persönlichkeit 
des Adressaten Einfluß hat. einen Einfluß, der oft so weit geht. 
daß in die Handschrift des Schreibenden plötzlich charakteristische 
Züge aus der Handschrift dessen sich einschleichen, mit dem er sich 
in dem Briefe ausspricht. 
Der nachstehende Familienbrief der Königin Luise ist bio¬ 
graphisch von hohem Interesse. Er ist eine wundervolle Probe, 
ein deutlicher Beweis all ihrer herrlichen Tugenden, die sie, 
„Preußens Engel", unvergeßlich gemacht haben. 
Der Brief lautet: 
Memel, den 17. Juni 1807. 
Mit der innigsten Rührung und unter Tränen der dankbarsten 
Zärtlichkeit habe ich Ihren letzten Brief gelesen. Wie soll ich 
Ihnen würdig danken, bester, zärtlichster Vater, für die vielen 
Beweise Ihrer Liebe, Ihrer Huld, Ihrer unbeschreiblichen Vater¬ 
güte. Welcher Trost ist dies für mich und welche Stärkung! Wenn 
man so geliebt wird, kann man nicht ganz unglücklich sein. Es ist 
wieder aufs neue ein ungeheueres Ungemach über uns gekommen, 
und wir stehen auf dem Punkte, das Königreich zu verlassen. Be¬ 
denken Sie, wie mir dabei ist; doch bitte ich Sie, verkennen Sie 
Ihre Tochter nicht. Glauben Sie ja nicht, daß Zweifel und Klein¬ 
mut mein Haupt beugen. Zwei Hauptgründe habe ich. die mich 
über alles erheben. Der erste ist der Gedanke: wir sind kein Spiel 
des blinden Zufalls, sondern wir stehen in Gottes Hand. und die 
Vorsehung leitet uns, wenngleich durch Finsternis, doch am Ende 
zum Lichte, denn sein ganzes Wesen ist Lichts der zweite: wir gehen 
mit Ehren unter. Der König hat bewiesen, der Welt hat er es be¬ 
wiesen, daß er nicht Schande will. sondern Ehre, und er ist besser, 
als sein Schicksal. Preußen will nicht freiwillig Sklavenketten 
tragen. Auch nicht einen Schritt hat der König anders handeln 
können, als er gehandelt hat. Er, der die Wahrheit und Treue 
selbst ist. konnte seinem Charakter nicht ungetreu und an seinem 
Volke nicht zum Verräter werden. Wie dieses mitten im Unglücke 
stärkt und hebt. kann nur der fühlen, den wahres Ehrgefühl durch¬ 
dringt. Doch zur Sache! Durch die unglückliche Schlacht bei 
Friedland kam Königsberg in französische Hände. Wir sind vom 
Feinde gedrängt, und wenn die Gefahr nur etwas näher rückt, so 
bin ich in die Notwendigkeit versetzt, mit meinen Kindern Memel 
zu verlassen. Der König wird sich wieder mit dem Kaiser ver¬ 
einigen. Ich gehe. sobald dringende Gefahr eintritt, nach Riga: 
Gott wird mir helfen, den Augenblick zu bestehen, wo ich über die 
Grenze des Reiches muß. Da wird es Kraft erfordern, aber ich 
richte meinen Blick gen Himmel, von wo alles Gute und alles Böse 
kommt, und mein fester Glaube ist: Gott schickt nicht mehr und 
legt nicht mehr auf, als wir tragen können. Noch einmal, bester 
Vater: wir gehen unter mit Ehren, geachtet von Nationen, und
	        
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