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„Das," spricht der Vater, „nimmt mich Wunder; wie wohl ein jeder Ort läßt
Wunderdinge sehn. Wir, zum Exempel, geh'n jetzunder und werden keine
Stunde geh'n, so wirst du eine Brücke seh'n, (wir müssen selbst darüber geh'n)
die hat dir Manchen schon betrogen; (denn überhaupt soll's dort nicht gar
zu richtig sein) auf dieser Brücke liegt ein Stein; an den stößt man, wenn
man denselben Tag gelogen, u. fällt u. bricht sogleich ein Bein." Der Bub'
erschrak, sobald er dies vernommen. „Ach," sprach er, „lauft doch nicht so sehr!
Doch wieder auf den Hund zu kommen, wie groß sagt' ich, daß er gewesen wär"?
Wie euer größtes Pferd? Dazu will viel gehören. Der Hund, jetzt fällt
mir's ein, war erst ein halbes Jahr; allein das wollt' ich wohl beschwören,
daß er so groß, wie mancher Ochse war." — Sie gingen noch ein gutes Stücke:
doch Fritzen schlug das Herz. Wie konnt' es anders sein? Denn Niemand
bricht doch gern ein Bein. Er sah nunmehr die richterische Brücke und fühlte
schon den Beinbruch halb. „Ja Vater," fing er an, „der Hund, von dem ich
red'te, war groß, und wenn ich ihn auch was vergrößert hätte, so war er
doch viel größer, als ein Kalb." Die Brücke kommt. Fritz, Fritz, wie wird
dir's gehen! Der Vater geht voran: doch Fritz hält ihn geschwind. „Ach,
Vater," spricht er, „seid kein Kind und glaubt, daß ich dergleichen Hund ge¬
sehen: denn kurz und gut, eh' wir darüber gehen, der Hund war nur so
groß, wie alle Hunde find. Geliert, nach Burkard Waldis.
A nt y n t.
Amynt, der sich in großer Noth befand und, wenn er nicht die Hütte
meiden wollte, die hart verpfändet war, zehn Thaler schaffen sollte, bat einen
reichen Mann, in dessen Dienst er stand, doch dieses Mal sein Herz vor ihm
nicht zu verschließen und ihm zehn Thaler vorzuschießen. Der Reiche ging
des Armen Bitten ein. Denn gleich auf's erste Wort? Ach, nein! Er ließ
ihm Zeit erst Thränen ju vergießen: er ließ ihn lange trostlos stehen und
oft um Gottes willen flehen und zweimal nach der Thüre gehen. Er warf
ihm erst mit manchem harten Fluche die Armuth vor und schlug hierauf ihm
in dem dicken Rechnungsbuche die Menge böser Schuldner auf und fuhr ihn
(denn dafür war er ein reicher Mann) bei jeder Post gebietrisch schnaubend
an. Dann fing er an, sich zu entschließen, dem redlichen Amynt, der ihm die
Handschrift gab, auf sechs Procent zehn Thaler vorzuschießen, und dies Pro¬
cent zog er gleich ab.
Indem daß noch der Reiche zählte, so trat ein Handwerksmann herein
und bat, weil's ihm am Gelde fehlte, er sollte doch so gütig sein und ihm
den kleinen Rest bezahlen. „Ihr kriegt jetzt Nichts!" — fuhr ihn der Schuld¬
herr an. Allein der arme Handwerksmann bat ihn zu wiederholten Malen,
ihm die paar Thaler auszuzahlen. Der Reiche, dem der Mann zu lange
stehen blieb, fuhr endlich auf: „Geht fort, ihr Schelm, ihr Dieb!" — Ein
Schelm, ein Dieb? Das wäre mir nicht lieb. Ich werde geh'n und Sie ver¬
klagen: Amynt dort hat's gehört. — Und eilends ging der Mann.
„Amynt," — fing d rauf der Wuch'rer an — „wenn sie Euch vor Gerichte
fragen: so könnt ihr mir ja zu ^Gefallen sagen, Ihr hättet Nichts gehört.
Ich will auch dankbar sein und Euch statt zehn gleich zwanzig Thaler leih'n.
Denn diesen Schimpf, den er von mir erlitten, ihm auf dem Rathhaus ab¬
zubitten: dies würde mir ein ew'ger Vorwurf sein. Kurz wollet Ihr mich
nicht als Zeuge kränken: so will ich Euch gleich zwanzig Thaler schenken; so
kommt ihr gleich aus Eurer Noth."
Herr, sprach Amynt, ich habe seit zwei Tagen für meine Kinder nicht satt
Brod. Sie werden über Hunger klagen, sobald sie mich nur wieder seh'n.
Es wird mir an die Seele' geh'n. Die Schuldner werden mich aus meiner
Hütte jagen: allein ich will's mit Gott ertragen. Streicht Euer Geld, das ihr mir
bietet, ein und lernt von mir die Kunst, gewissenhaft zu sein. Gellert.
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