Full text: Lehr- und Lesebuch oder die Vaterlands- und Weltkunde

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Häringe legt, und welche die hochgestellten Personen, denen man sie überreicht, 
mit einem bedeutenden Geschenk bezahlen. Wenn früh bei der Ankunft in Am¬ 
sterdam die Tonne noch an 500 Gulden kostet, so wird sie Nachmittags schon 
mit kaum 100 bezahlt. Der Häring ist eine sehr gesunde Speise, ja man genießt 
ihn oft, das Wohlbefinden wieder herzustellen; auch wird er als Heilmittel, 
namentlich gegen Halsschwindsucht benutzt. Wo er in zu großer Menge gefangen 
wird und nicht eingesalzen werden kann, preßt man Thran aus ihm, auch braucht 
man den ganzen Fisch als Dünger. 
3. Ebbe und Fluth in Holland. 
Die merkwürdigste Bewegung des Meeres ist Ebbe und Fluth. Ganz See¬ 
land mit allen seinen Nebenlanden und Nachbarinseln ist gleich einem großen 
Schwamme, der sich täglich zweimal bis zum überlaufen vollsaugt und zweimal 
sich fast bis auf den Boden entleert. Das Wasser am Strande steigt und 
fällt nämlich in regelmäßigem Wechsel innerhalb 24 Stunden 50 Minuten 48 
Sekunden zweimal. Das Steigen, welches 6 Stunden dauert, nennt man Fluth. 
Wächst es nicht mehr, so ist hohe See, die nur 1/2 Stunde dauert. Fällt es und 
tritt vom Ufer zurück, was wieder 6 Stunden anhält, so sagt man: es ebbet 
— es ist Ebbe. Im niedrigsten Stande (tiefe See) beharrt es wieder V2 Stunde, 
bevor es zu steigen beginnt. In der Ostsee, die fast gänzlich vom Lande um¬ 
geben ist, spürt man keine Fluth, wohl aber in der Nordsee. Zuweilen über¬ 
steigt das. Meer die gewöhnliche Höhe und wird dann gefährlicher. Man nennt 
dies Springfluth. Um sich gegen diese zu schützen, hat man die West- und 
Nordküste der Niederlande,- wie auch die Nordküste Deutschlands bis an Dänemark 
mit kostspieligen Dämmen und Deichen, 10 bis 20 Fuß hoch, eingefaßt. Um 
aber das Wasser aus den Sümpfen des Landes los zu werden, hat man die 
Deiche mit Pforten (Schien), von 7 bis 20 Fuß Weite, versehen. Zur Ebbe, 
wenn das Seewasser bis unterhalb dieser Pforten gesunken ist, öffnen sich diese 
durch den Druck des dich dem Lande kommenden Wassers und lassen dieses hin¬ 
aus. Die steigende Fluth aber, natürlich weit stärker als das träge Moorwaffer, 
orückt dann die Thüren wieder zu und verschließt sich selber den Eintritt ins Land. 
Die Ebbe und Fluth, besonders aber die Ebbe, bietet dem Auge einen 
interessanten Anblick dar. Da die Ebbe das Niveau (sp. Niwoh), d. h. die 
Wasserfläche, gewöhnlich um 15 bis 20 Fuß erniedrigt, so kann man sich denken, 
wie die dadurch entstehende Erhöhung und Hervorsteigung aller Dämme, Ufer und 
Sandbänke ebenfalls um 15 bis 20 Fuß ihr Aussehen verändern muß. Die 
Deiche scheinen riesenhoch zu wachsen, die Brücken und Pfahlreihen der Häfen 
steigen mit langen Piedestalen (Fußgcstellen) empor und die Schiffe sinken mit 
dem Wasser hinab und verstecken sich zwischen den hohen Ufern oder liegen wohl 
auch, aufs Trockene gesunken, wie gestrandet auf einer Seite und erwecken 
unser Mitleid. — Dort kriechen die armen Leute der Küstenstädte, die zerlumpten 
Kinder und die armen Muschelsammler und Krabben- (Seekrebsen-) Fänger 
hervor und schleichen an den Bollwerken der Häfen umher, an denen ihre Ernte 
gereift ist, nämlich die Muscheln, die das Meer hier säete und pflanzte. Die 
Ebbe enthüllt auch eine Menge Geheimnisse der Tiefe, welche die Fluth verborgen 
hält: da sieht man die versandeten Wraks und Balken des ehemals gestrandeten 
Schiffs; da kommen die hübschen Muscheln und die wunderlichen Ungethüme des 
Meeres zu Tage. Da zeigen sich — auf dem Grunde des Meeres Thiere, 
welche ihr nicht rech)- in unseren sechs Thierklassen unterzubringen wüßtet, ja 
gewiß eher für Kräuter, ^Sträucher oder Bäume, als für Thiere ansehen würdet, 
und die denn auch von. den Gelehrten wegen ihrer großen Pflanzen-Ähnlichkeit, 
Strahlenthiere, Quallen oder Medusen, Korallenthiere und Po¬ 
lypen, oder zu deutsch mit einem gemeinschaftlichen Namen Pflanzenthiere genannt 
werden. (Ein solches Pflanzenthier ist der euch bekannte Badeschwamm, der 
ebenfalls aus dem Meere kommt.) — Aber auch - in der Luft herrscht zur Zeit 
der Ebbe reges Leben, denn die Strandvögel: die.Möven, die Störche 
und selbst die Schnepfen machen'sich heran und flattern und wandeln am
	        
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