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Das große römische Reich deutscher Nation und das Kaiserthum,
das man in Hoheit und Würde neben der Kirche für berufen hielt zur
Herrschaft und zum Schiedsrichterthum über alle Welt — das Reich
und Kaiserthum bestanden dem Namen und den Formen nach noch
völlig. Die seltenste Tüchtigkeit, die edelsten Gefühle und die größten
Gedanken hatten bei seiner Aufrichtung zum Grunde gelegen, und waren
noch so wenig ganz entschwunden, als die Erinnerungen an die Zeiten
seines Glanzes und seiner Macht. Man betrachtete den Kaiser noch
immer als den obersten Lehns- und Gerichtsherrn, der allem Besitzthume
die Weihe der höchsten Bestätigung, jedem Rechte die höchste Gewähr¬
leistung verliehe; als den Nachfolger der altröinischen Cäsaren, das welt¬
liche Oberhaupt der Christenheit, dem von Rechtswegen die übrigen
christlichen Könige unterworfen wären, als weltliches Haupt, Schützer
und Arzt der Christenheit. Das Kaiserthum war im Gedankenkreise der
Deutschen noch eine nothwendige Voraussetzung, eine unentbehrliche und
geheiligte Würde; sie dachten sich in einer besonderen Beziehung zu ihm
als das Volk, welches der Christenheit das weltliche Oberhaupt aus
seiner Mitte gab. Vom Größten bis zum Kleinsten suchte jeder die
Bestätigung seiner Rechte, seines Besitzstandes beim ohnmächtigen Kaiser.
Es fehlte nicht an dem herkömmlichen Prunke bei den Belehnungen,
welche der Kaiser den Kurfürsten ertheilte, und durch welche er mehr
ihre Uebermacht bekräftigte, als seine Oberlehnsherrlichkeit erwies. Alle
wichtigen Sachen wurden noch in Reichßversammlungen wenigstens ver¬
handelt, in welchen der Kaiser und die Stände persönlich erschienen,
obwohl es sich einschlich, daß sie sich durch Abgeordnete vertreten ließen.
Selbst Polizeigesetze, wie über das unmäßige Zutrinken, die Kleiderpracht
und dergleichen, wurden eben in dieser Zeit sehr angelegentlich auf den
Reichstagen berathen und im Namen des Reichs verkündet, als wäre
dieses ein Staat, der selbst über das Privatleben seiner Unterthanen
gesetzgeberische Macht übe.
Vor allen deutschen Staaten war Oestreich durch die Erwerbung
Burgunds emporgekommen- Durch die Vermählung des Prinzen Phi¬
lipp mit der spanischen Johanne wurde Philipps Erstgeborner, Karl,
Herr von Spanien, Sicilien, Neapel, der östreichischen Erblande und
des' neu entdeckten Amerika. Er wäre der mächtigste König gewesen,
wenn nicht die Zersplitterung seiner Länder und die konstitutionellen
Freiheiten derselben seiner Macht Grenzen gesetzt hätten. Dagegen war
Frankreich, seitdem Ludwigs XI. arglistige und grausame Staatskunst
die Macht der Großen gebeugt hatte und seitdem durch glückliche Erwer¬
bungen die wichtigsten Vasallengüter mit der Krone vereinigt worden
waren, als wohlverbundene, dem fast unumschränkten Willen des Monar¬
chen unterworfene, nationale Macht, gewalrig und allen Nachbarn furcht¬
bar. Die Eifersucht zwischen Spanien und Frankreich bedrohte Europa
mit Kriegsverheerung, der entscheidende Sieg der einen Macht mit Unter¬
jochung. England gelangte durch Heinrich VII., welcher den schreck¬
lichen Kampf der weißen und rothen Rose durch deren Vereinigung
beendigt hatte, unter dessen kluger und sparsamer Verwaltung zu Wohl-
stand und politischer Stärke. Von Heinrich VIII. erwartete Europa
die Erhaltung des Gleichgewichts. In Portugals Hauptstadt Lissa¬
bon strömten Afrika's, Brasiliens und Indiens Schätze zusammen.