Full text: Lehr- und Lesebuch oder die Vaterlands- und Weltkunde

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straße, in Felsen gehauen, sich vorüberzieht, sollte nun des andem 
Tages der todte Fremde begraben werden. Eine unzählige Menge 
Menschen folgte dem Zuge. Sie waren aus allen benachbarten Dör¬ 
fern gekommen, Jeder wollte seine Unschuld, seine Trauer und seine 
Theilnahme bekunden. Still, ohne laute Klage, nur mit tiefem Weh 
im Herzen, bewegte sich der Zug den Berg hinan. Der Geistliche hielt 
eine ergreifende Rede. Zuerst redete er den Entseelten an und sprach: 
„Auf dem Wege bist du gefallen. Wer weiß, wohin dein Herz 
sich sehnte, welches Herz dir entgegenschlug! Möge der, der Alles 
kennt und Alles heilt, Ruhe und Frieden in die Seelen der Deinigen 
senden! Unbekannt bist du gefallen von unbekannter Hand. Niemand 
weiß, woher du kamst, wohin du gingst; aber er, der deinen Eingang 
und deinen Ausgang kennt, hat dich Bahnen hinaufsteigen lassen, die 
unser Auge nie mißt. Zu welchem Volke du gehörtest, welche Sprache 
du redetest, wer mag den stummen Mund fragen? Du stehst jetzt vor 
ihm, den alle Sprachen nennen und doch nicht zu fasten vermögen. — 
Erhebet mit mir eure Hände," fuhr der Geistliche zu den Versammel¬ 
ten fort, und Alle hoben die Hände empor; dann sprach er wieder: 
„Wir heben unsere Hände empor zu dir, o Allwissender! Sie sind 
rein von Blutschuld. Hier im Lichte der Sonne bekennen wir: Wir 
sind rein von der That. Die Gerechtigkeit aber wird nicht ausbleiben. 
Wo du auch weilest, der du deinen Bruder in Waldesnacht erschlugst; 
das Schwert schwebt unsichtbar über deinem Haupte, und es wird fal¬ 
len und dich zerschmettern. Kehr' um, so lange es noch Zeit ist! 
Häufe nicht Frevel auf Frevel; denn einst, wenn sie ertönt, die Po¬ 
saune des Gerichts —" 
Da, plötzlich hörte man von der Straße herauf das Posthorn er¬ 
schallen. Das Lied erklang: „Denkst du daran?" — Alles schwieg 
und hielt den Athem an. — Aus der Mitte der Versammlung stürzte 
ein junger Mann nieder und rief: „Ich bin's!" — Nachdem man 
ihn aufgehoben, gestand er reumüthig seine That, wie er in der Stadt 
das Geld des Herrn, bei dem er diente, verspielt habe; wie er den 
Fremden, den er nur niederwerfen wollte, ermordet habe; wie das 
Posthorn ihn verwirrt, wie er seine Hand brennend gefühlt, wie er sie 
zum Himmel erhob, und wie jetzt dieselben Töne des Posthorns ihm 
das Geständniß abpreßten. 
Still, mit leisem Weh im Herzen, hatte sich der Zug den Berg 
hinab bewegt; mit tief erschüttertem Herzen und heilsamer Furcht vor 
Gottes unerforschlichen Ratschlüssen, die auch im Verborgenen walten, 
kehrte man heim. Den unglücklichen Verbrecher traf bald nachher das 
Schwert der irdischen Gerechtigkeit — hoffentlich zur Sühne und zu 
seinem ewigen Heile. 
16. Das Gewitter. 
Urahne, Großmutter, Mutter und Kind Großmutter spinnet, Urahne gebückt 
In dumpfer Stube beisammen sind; Sitzt hinter dem Ofen im Pfühl 
à spieltdas Kind, die Mutter sich schmückt, Wie wehen die Lüfte so schwül!
	        
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