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ZI. Das Kind unter den Wölfen.
die gute Nacht, die er ihr gegeben, für die vielen Würmchen und Körnchen,
die er sie hat finden lassen. Jetzt schweigt sie. Sie ist nicht mehr zu sehen.
Wo mag sie geblieben sein? Wenn wir ins Kornfeld gehen und das Gras
und die Halme sacht zurückbiegen, dann sehen wir sie wieder und noch mehr
dazu. Dort ist ein kleines Nest unten auf der Erde. Von Gras und Haaren
ist es gebaut, und niedliche Eier liegen darin. Bald aber sind sie ausgebrütet,
und arme kleine Vögel liegen im Neste, die haben noch kein Federkleid. Damit
sie nicht frieren, deckt sie die Mutter mit ihren warmen Flügeln zu, und der
Vater holt Würmchen und Körnchen für die hungrigen Kinder. Dann sperren
sie den Schnabel auf und der Vater giebt ihnen, was er mitgebracht hat.
Wenn der Herbst kommt und die Blätter abwirft von den Bäumen,
dann ziehen unsere Lerchen fort in wärmere Länder. Hier ist ja nichts als
Eis und Schnee, dort aber ist es Sommer, dort giebt es Körnchen und
Würmchen vollauf. Auf der Reise begegnet mancher Lerche ein Unglück. Den
ganzen Tag sind sie geflogen, nun sind sie hungrig und müde, sie wollen aus¬
ruhen und ein wenig Futter suchen. Sieh, dort im Busche steht eine Hütte.
Rund umher liegen die schönsten Körnchen. „Wir wollen hinfliegen und ein
paar Körnchen fressen", denken die Lerchen und fliegen hin. Ach, sie wissen
nicht, was der Mann mit ihnen thun will, der in der Hütte wohnt. Er
will sie sangen mit seinem Netze, mit Schlingen und Leimruten, will sie in
ein Bauer setzen und vor das Fenster hängen, oder auch töten und an die
reichen Leute verkaufen, die sie braten und verzehren.
Da machte ich es doch lieber, wie unsere kleine Anna. Sie hatte auch
ein Lerchlein, das sang so schön und lieblich. Als aber die Schwestern wie¬
derkamen aus fremdem Lande, da saß das Tierchen still und stumm. Oft flat¬
terte es auch hin und her und stieß sich das Köpfchen wund. Als das die
kleine Anna sah, jammerte sie das Vöglein: sie machte das Bauer auf und
ließ es fliegen. Da flog die Lerche hoch in die Luft unb sang so schön, daß
alle Menschen stillstanden und zuhörten. Die kleine Anna aber freute sich noch
lange, daß sie dem Tierchen die Freiheit geschenkt hatte. Und wenn sie ein¬
mal auf das Feld kam und hörte eine Lerche singen, dann sprach sie leise bei
sich selbst: „Ob es wohl mein Lerchlein ist?"
W.
L.
30. Wandersmann und Lerche.
„Lerche, wie früh schon fliegest du
jauchzend der Morgensonne zu?"
„Will dem lieben Gott mit Singen
Dank für Leben und Nahrung bringen;
das ist von altersher mein Brauch;
Wandersmann, deiner doch wohl auch?"
Und wie so laut in der Luft sie sang,
und wie er schritt mit munterm Gang,
war es so froh, so hell den zwei'n
im lieben, klaren Sonnenschein.
Und Gott der Herr im Himmel droben
hörte gar gern ihr Danken und Loben.
Hey.
31. Das Kind unter den Wölfen.
Äuf dem Riesengebirge lebte einmal eine arme Frau, die hatte ein kleines
Kind und eine große Herde. Die Herde aber gehörte nicht der Frau, sondern
sie hütete sie nur. Und da saß sie einmal mit ihrem Kinde in den: Walde
und gab dem Kinde Brei aus dem Napfe, und die Kühe weideten unterdessen