Full text: Vaterländisches Lesebuch für die mehrklassige evangelische Volksschule Norddeutschlands

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69. Die Schweizer Alpen. 
beständigen Zunahme begriffen; sie nehmen zu, sowohl an Dicke und Höhe, als 
an Ausdehnung, indem sie weiter in die Thäler sich hinabsenken, bis sie ein¬ 
mal wieder in sehr heißen Sommern auf einige Zeit zurückgedrängt werden. 
Sie bedecken alle Bergabhänge und Thäler der höheren Alpen; man zählt ihrer 
über 400; manche darunter sind 10 lein lang und 2—4 km breit. Sie werden 
nur dem unvorsichtigeu Reisenden oder dem allzu kühnen Jäger gefährlich. — 
Größer ist die Gefahr, welche vielen Einwohnern der Schweiz und jedem im 
Hochgebirge Reisenden von den Lawinen oder Lauinen droht. Damit bezeich¬ 
net man Schnee- oder Eismassen, welche von den Hochgebirgen in die Tiefe 
stürzen und oft sowohl durch unmittelbare Gewalt, als durch den Luftdruck 
große Verheerungen anrichten, Ströine verstopfen, Häuser und Wälder fort¬ 
reißen und Menschen und Tiere durch Ersticken töten. Sie entstehen, wenn 
bei tiefem Schnee gelindere Witterung eintritt, so daß die ungeheuren Massen 
ins Rutschen kommen, was vorzüglich im Frühling und Sommer der Fall ist. 
So wurden am 12. Dezember des Jahres 1809 in den Bergbezirken der Schweiz, 
in Bern, Glarus, Uri, Schwyz und Graubünden, in einer Nacht und fast in 
der nämlichen Stunde durch die Lawinen ganze Familien erdrückt, ganze Vieh¬ 
herden mit den Ställen zerschmettert, Wiesen und Gartenland bis aus die 
nackten Felsen abgehoben und weggeführt und ungeheure Wälder so zerstört, 
daß die Bäume teils in die Thäler gestürzt, teils geknickt und zerschmettert über¬ 
einander lagen, wie die Halme auf dem Felde nach dem Hagelschlag. Sind 
doch in dem einzigen kleinen Lande Uri mit einem Schlag 11 Menschen unter 
dem Schnee vergraben worden und nicht mehr auferstanden, gegen 30 Häuser 
und über 150 Heustülle zerstört worden und 359 Stück Vieh umgekommen. 
Die Schweizer, mit der Natur, ihren Erscheinungen und Ereignissen wohl ver¬ 
traut, sahen dies schreckliche Verderben voraus. Denn auf allen Bergen hatte 
ein frisch gefallener, tiefer Schnee gelegen, und darauf war am 12. Dezember 
Tauwind und Sturm gefolgt. Da dachte nun jedermann schon an ein großes 
Unglück. Wer sich und seine Wohnung für sicher hielt, schwebte in Betrübnis 
und Angst für die Armen, die es treffen würde; und wer sich ohne Rettung 
wußte, sagte zu seinen Kindern: „Morgen geht uns die Somne nicht mehr auf; 
bereitet euch zu euerm Ende, betet und befehlt dem Herrn über Leben und 
Tod eure Seele!" — Da rissen sich auf einmal und allerorten von den Kuppen 
der höchsten Berge die Lawinen los, stürzten mit entsetzlichem Tosen und Krachen 
über die langen Bergwände herab, wurden immer größer und größer, schossen 
immer schneller und schneller, toseten und krachten immer fürchterlicher und 
jagten die Luft dermaßen vor sich her, daß, noch ehe die Lawine selbst ankam, 
durch den orkangleichen Luftstrom ganze Wälder zusammenkrachten und Ställe, 
Scheunen und Häuser wie Spreu davonflogen; und wo die Lawinen sich in 
die Thäler niederstürzten, da wurden stundenlange Strecken mit allen Wohn¬ 
gebäuden, die darauf standen, und mit allem Lebendigen, das darin atmete, 
erdrückt und zerschmettert. Einer von zwei Brüdern in llri, die miteinander 
hausten, war auf dem Dache, das hinten an den Berg anstößt, und sagte: 
„Ich will den Zwischenraum zwischen dem Berg und dem Dächlein mit Schnee 
ausfüllen, und alles eben machen, damit, wenn die Lawine kommt, sie über 
das Haus wegführt, und daß wir vielleicht" und als er eben sagen
	        
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