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124. Das Leben der Pflanze.
Das Wurzelende und das Stammende des Keimes, welche beide schon
von vornherein vorhanden waren, und z. B. an einer aufgespaltenen Eichel oder
weißen Bohne leicht beobachtet werden können, gehen jedes seinen Weg, das
eine nach unten, das andere nach oben. Die beiden Hälften des Kernes ver¬
wandeln sich dabei in zwei dicke, fleischige Blättchen, von runder oder eirun¬
der Gestalt, wie bei dem keimenden Kirschkern oder der keimenden Eichel, und
zwischen diesen zum Schutze des jugendlichen Gewächses mitgegebenen Samen¬
blättern erheben sich die ersten wirklichen Blätter der neuen Pflanze. Andere
Pflanzen, wie die Kornarten, die auf Halmen wachsen, haben nur ein Samen¬
blatt, immer aber lebt die junge Pflanze, wie das Säugetier von der Mutter¬
milch, zuerst von dieser Mitgift, indem sie dabei Sauerstoff aus der Lust auf¬
nimmt und Kohlensäure zurückgiebt. Hat sie ihre wirklichen Blätter und
Stengel gebildet, welche immer aus der Spitze heraus zunehmen und sich meh¬
ren, dann atmet die Pflanze im Gegenteil durch die seinen Öffnungen aus der
Unterseite der Blätter Kohlensäure ein und Sauerstoff wieder aus, indem sie
unter dem belebenden Einflüsse des Sonnenlichts befähigt ist, den Kohlenstoff
zurückzuhalten und aus diesem im Verein mit dem Wasser und den darin aus¬
gelösten Bestandteilen des Bodens den ganzen Reichtum der verschiedenen Pslan-
zenstosfe, vor allen Dingen das Holz und die Blätter, die Blüten und die
Früchte, zu erzeugen. Menschen und Tiere, welche von den Pslanzenstoffen
leben, atmen, wie die keimende Pflanze, so lange sie noch von dem Inhalt des
Samenkornes lebt, Sauerstoff ein und Kohlensäure aus, und so kommt es, daß,
indem Millionen Pflanzen der Luft ihre Kohlensäure entziehen, Millionen Tiere
ihr dieselbe wieder zurückgeben, also die zum Leben beider unentbehrliche Luft
in ihrer Zusammensetzung unverändert bleibt.
Wenn die Pflanze vollständig entwickelt ist, dann zeigt sich die Blüte, nach
deren Vollendung und Abfall das Samenkorn zurückbleibt, in welchem der Keim
zu einer neuen Pflanze derselbigen Art verschlossen ist.
Einige Pflanzen sterben ab, nachdem sie einmal geblüht haben, andere
aber haben, wie namentlich alle unsere Bäume und Sträucher, ein vieljähriges
Leben und bringen alljährlich neue Blüte und Frucht. Von denjenigen, welche
nur einmal blühen und Frucht tragen, vollenden die meisten diesen Lebenslauf
in einem Jahre, wie z. B. der Buchweizen und der Hafer; andere bedürfen
zweier Jahre zur Entwickelung guten Samens, wie z. B. unsere Winterkorn¬
arten Roggen und Weizen, die freilich auch zur Not mit einem Jahre aus¬
reichen, während viele Pflanzen, z. B. die gelbe Wurzel oder Möhre, immer
erst im zweiten Jahre Frucht tragen. Manche zweijährige Pflanzen vollenden
ihren Lebenslauf in einem Jahre, wenn sie in Gegenden versetzt werden, wo
der Sommer länger dauert.
Alle diese Erscheinungen dès Wachsens, Reifens und Alterns zusammen
genommen, sowie auch das Welken, Verfallen und Vergehen der Pflanze, wenn
man ihr Licht, Luft, Wärme, Feuchtigkeit oder die Verbindung mit dem Boden
entzieht, lehren uns in derselben ein wahrhaft lebendiges Wesen kennen, das
berufen ist, durch seine Lebensthätigkeit immer von neuem für Menschen und
Tiere Nahrung und für die Menschen gleichzeitig die Mittel zur Befriedigung
zahlreicher anderen Bedürfnisse hervorzubringen. Meyn.