Full text: Vaterländisches Lesebuch für die mittleren und oberen Klassen evangelischer Volksschulen

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157. Geduld. 
i. 
zieht ein stiller Engel 
# durch dieses Erdenland, 
zum Trost für Erdenmängel 
hat ihn der Herr gesandt. 
In seinem Blick ist Frieden 
und milde sanfte Huld; 
o folg' ihm stets hienieden, 
dem Engel der Geduld. 
2. 
3. 
Er macht zu linder Wehmut 
den herbsten Seelenschmerz 
und taucht in stille Demut 
das ungestüme Herz. _ 
Er macht die finstre Stunde 
allmählich wieder hell. 
Er heilet jede Wunde 
gewiß, wenn auch nicht schnell. 
4. 
Er führt dich immer treulich 
durch alles Erdenleid 
und redet so erfreulich 
von einer schönern Zeit. 
Denn willst du ganz verzagen, 
hat er doch guten Mut; 
er hilft das Kreuz dir tragen 
und macht noch alles gut. 
Er zürnt nicht deinen Thränen, 
wenn er dich trösten will; 
er tadelt nicht dein Sehnen, 
nur macht er's fromm und still. 
Und wenn in Sturmestoben 
du murrend fragst: warum? 
so deutet er nach oben, 
mild lächelnd, aber stumm. 
5. 
Er hat für jede Frage 
nicht Antwort gleich bereit, 
sein Wahlspruch heißt: Ertrage, 
die Ruhstatt ist nicht weit! 
So geht er dir zur Seite 
und redet gar nicht viel 
und denkt nur in die Weite, 
ans schöne, große Ziel. Spitta. 
158. Zeus und das Schaf. 
Das Schaf musste von allen Thieren vieles leiden. Da trat es 
vor den Zens und hat, sein Elend zu mildern. 
Zeus schien willig und sprach zu dem Schafe: „Ich sehe wohl, 
mein frommes Geschöpf, ich habe dich allzu wehrlos erschaffen. 
Nun wähle, wie ich diesem Fehler am besten abhelfen soll. Soll ich 
deinen Mund mit schrecklichen Zähnen und deine Füsse mit Krallen 
rüsten?“ — 
„0 nein“, sagte das Schaf; „ich will nichts mit den reissenden 
Thieren gemein haben.“ 
„Oder“, fuhr Zeus fort, „soll ich Gift in deinen Speichel legen?“ 
„Ach!“ versetzte das Schaf, „die giftigen Schlangen werden ja 
so sehr gehasst.“ — 
„Nun, was soll ich denn? Ich will Hörner auf deine Stirne pflan¬ 
zen und Stärke deinem Nacken geben.“ 
„Auch nicht, gütiger Vater; ich könnte leicht so stössig werden, 
wie der Bock.“ 
„Und gleichwohl“, sprach Zeus, „musst du selbst schaden kön¬ 
nen, wenn sich andere dir zu schaden hüten sollen.“ 
„Müsst1 ich das!“ seufzte das Schaf. „0 so lass mich, gütiger 
Vater, wie ich bin. Denn das Vermögen, schaden zu können, er¬ 
weckt , fürchte ich, die Lust, schaden zu wollen; und es ist besser, 
Unrecht leiden, als Unrecht thun.“
	        
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