Full text: Vaterländisches Lesebuch für die mittleren und oberen Klassen evangelischer Volksschulen

109 
Mafia. Dieser Mann hat mich, als ich noch ein kleines Kind war, von 
meinem Vater und meiner Mutter weggerissen und in die Sklaverei ver¬ 
kauft. Und im Worte Gottes habe ich gelesen: So deinen Feind hungert, 
so speise ihn, dürstet ihn, so tränke ihn!" Potsdamer Lesebuch. 
161. Der Kirschkern. 
Als ich letzthin meine Mutter fragte: ,Mas soll ich mit dem Steine 
thun, den der Feind nach mir wirft?" antwortete sie und sprach: „Ent¬ 
weder liegen lassen, gleichwie David die Steine des Sohnes Gera, oder 
aufheben, wie der Mühlgörg. — Der saß an einem Sonntagabend auf 
seiner Bank vor dem Hause und ¿erlernte sich fast an der fünften Bitte; 
denn er hatte einen sehr harten Kopf und war wegen seines lauten Lernens 
aus der Stube gejagt worden. Da fand ihn sein Verächter, des Amt- 
nmnns Fritz, nnb schnellte einen Kirschkern nach ihm und nahin den Kopf 
zwischen die Schultern und ging davon. Georg aber blieb sitzen und sprach 
bei sich selber: „Wie hat mich der getroffen! Wäre über meinem Auge kein 
Deckel, wie bei den Karpfen in meines Vaters Teich, er hätte mir's ge¬ 
wißlich ausgeworfen." Dann nahm er den Kern von dem Boden, betrach¬ 
tete ihn hinten und vorn, und steckte ihn in sein Westentüschlein, worauf 
er wieder weiter lernte: „Denn da wir täglich viel sündigen und wohl eitel 
Strafe verdienen, so wollen wir zwar wiederum auch herzlich vergeben und 
gerne wohlthun denen, die sich an uns versündigen." — Dazwischen wischte 
er sich mit dem Hemdärmel das Auge, aus dem Wasser rann. Und acht 
Tage hernach, als Georg in seine Tasche langte und den Stein spürte, 
dachte er: „Da ist er nicht am besten verwahrt, ich will ihn besser aufheben;" 
— und legte ihn, wie eine Bohne, in den Garten, neben die Hecke. Und 
weil es so sein sollte, ging der Kern auf und wuchs, und der Baum setzte 
seiner Länge jährlich fast eine Elle zu. Da beschaute ihn Görg eines Tages 
und bog ihn sanft hin und her und dachte dabei: „Laß ich dich fortwachsen, 
wie du willst, so wirst du mir wie des Amtmanns Fritz auf der Schule, 
von dem die Leute sagen, daß er hinten und vorn ansschlägt, wie unser 
junge Rappe, wenn er mit seiner Mutter aus dem Stalle gelassen wird. 
Ich will's mit dir anders machen." 
Also holte er den Schulmeister, der unter den Bäumen ebenso gut 
umgehen konnte, wie mit den Kindern. Der warf aber sogleich alle wilden 
Triebe ab und pfropfte gute dafür ein von der großen Herzkirsche. Und 
weil es so sein sollte, gediehen die edlen Reiser alle und breiteten sich aus, 
daß der Stamm bald größer und herrlicher ward, denn alle Bäume im 
Garten. Und wer ihn zwanzig Jahre nicht mehr gesehen hattte, der kannte 
ihn so wenig mehr, als seinen Herrn, der ihn gepflanzt hatte. So ge¬ 
schmückt waren sie beide, als sie an einem Sonntagabende neben einander 
standen, der Baum mit köstlichen Früchten und sein Herr mit Mannes¬ 
schönheit und mit Freude und Friede im Gesichte. Also erkannte sie auch 
der Mann nicht, der sich an den Gärten hernmschlich, als getraute er sich 
nicht bei Tage in das Dorf hinein. Und obgleich der Miiller wußte, daß 
dieser verlorene Sohn in den zerrissenen Schuhen des Amtmanns Fritz 
sei, so that er doch, als kenne er ihn nicht, sondern rief ihn zu sich in den 
Garten und sagte: „Freund, ihr scheint mir durstig zu sein. Da, setzt 
euch unter meinen Baum und esset aus dem Körblein Kirschen, so viel
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.