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Mafia. Dieser Mann hat mich, als ich noch ein kleines Kind war, von
meinem Vater und meiner Mutter weggerissen und in die Sklaverei ver¬
kauft. Und im Worte Gottes habe ich gelesen: So deinen Feind hungert,
so speise ihn, dürstet ihn, so tränke ihn!" Potsdamer Lesebuch.
161. Der Kirschkern.
Als ich letzthin meine Mutter fragte: ,Mas soll ich mit dem Steine
thun, den der Feind nach mir wirft?" antwortete sie und sprach: „Ent¬
weder liegen lassen, gleichwie David die Steine des Sohnes Gera, oder
aufheben, wie der Mühlgörg. — Der saß an einem Sonntagabend auf
seiner Bank vor dem Hause und ¿erlernte sich fast an der fünften Bitte;
denn er hatte einen sehr harten Kopf und war wegen seines lauten Lernens
aus der Stube gejagt worden. Da fand ihn sein Verächter, des Amt-
nmnns Fritz, nnb schnellte einen Kirschkern nach ihm und nahin den Kopf
zwischen die Schultern und ging davon. Georg aber blieb sitzen und sprach
bei sich selber: „Wie hat mich der getroffen! Wäre über meinem Auge kein
Deckel, wie bei den Karpfen in meines Vaters Teich, er hätte mir's ge¬
wißlich ausgeworfen." Dann nahm er den Kern von dem Boden, betrach¬
tete ihn hinten und vorn, und steckte ihn in sein Westentüschlein, worauf
er wieder weiter lernte: „Denn da wir täglich viel sündigen und wohl eitel
Strafe verdienen, so wollen wir zwar wiederum auch herzlich vergeben und
gerne wohlthun denen, die sich an uns versündigen." — Dazwischen wischte
er sich mit dem Hemdärmel das Auge, aus dem Wasser rann. Und acht
Tage hernach, als Georg in seine Tasche langte und den Stein spürte,
dachte er: „Da ist er nicht am besten verwahrt, ich will ihn besser aufheben;"
— und legte ihn, wie eine Bohne, in den Garten, neben die Hecke. Und
weil es so sein sollte, ging der Kern auf und wuchs, und der Baum setzte
seiner Länge jährlich fast eine Elle zu. Da beschaute ihn Görg eines Tages
und bog ihn sanft hin und her und dachte dabei: „Laß ich dich fortwachsen,
wie du willst, so wirst du mir wie des Amtmanns Fritz auf der Schule,
von dem die Leute sagen, daß er hinten und vorn ansschlägt, wie unser
junge Rappe, wenn er mit seiner Mutter aus dem Stalle gelassen wird.
Ich will's mit dir anders machen."
Also holte er den Schulmeister, der unter den Bäumen ebenso gut
umgehen konnte, wie mit den Kindern. Der warf aber sogleich alle wilden
Triebe ab und pfropfte gute dafür ein von der großen Herzkirsche. Und
weil es so sein sollte, gediehen die edlen Reiser alle und breiteten sich aus,
daß der Stamm bald größer und herrlicher ward, denn alle Bäume im
Garten. Und wer ihn zwanzig Jahre nicht mehr gesehen hattte, der kannte
ihn so wenig mehr, als seinen Herrn, der ihn gepflanzt hatte. So ge¬
schmückt waren sie beide, als sie an einem Sonntagabende neben einander
standen, der Baum mit köstlichen Früchten und sein Herr mit Mannes¬
schönheit und mit Freude und Friede im Gesichte. Also erkannte sie auch
der Mann nicht, der sich an den Gärten hernmschlich, als getraute er sich
nicht bei Tage in das Dorf hinein. Und obgleich der Miiller wußte, daß
dieser verlorene Sohn in den zerrissenen Schuhen des Amtmanns Fritz
sei, so that er doch, als kenne er ihn nicht, sondern rief ihn zu sich in den
Garten und sagte: „Freund, ihr scheint mir durstig zu sein. Da, setzt
euch unter meinen Baum und esset aus dem Körblein Kirschen, so viel